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Marcia Angell

Autor von Der Pharma-Bluff

3+ Werke 411 Mitglieder 7 Rezensionen

Über den Autor

Beinhaltet den Namen: M.D. Marcia Angell

Bildnachweis: Wikimedia Commons

Werke von Marcia Angell

Zugehörige Werke

The Best American Essays 2012 (2012) — Mitwirkender — 231 Exemplare
The Best Business Writing 2012 (2012) — Mitwirkender — 12 Exemplare

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Wissenswertes

Geburtstag
1939
Geschlecht
female
Nationalität
USA

Mitglieder

Rezensionen

Blick in die „Blackbox“: Pharma auf dem Prüfstand

Eine Rezension von Gudrun Kemper

Es gibt sie sicherlich noch, pharmazeutische Firmen mit idealistischen Forschern, die zum Wohle des Menschen arbeiten, das hoffe ich zumindest. Bei Krebspatientinnen wie mir stehen Medikamente hoch im Kurs – versprechen sie doch, den das Leben bedrohenden Zellen wirksam etwas entgegen zu setzen. Die Pharmakonzerne, die diese Medikamente herstellen und vertreiben, hat eine Frau unter die Lupe genommen, die es wissen muss, Marcia Angell.

Die Autorin: Marcia Angell, die bis zu ihrem Eintritt in den Ruhestand im Jahr 2000 Chefredakteurin des New England Journal of Medicine (der übrigens weltweit bedeutendsten medizinischen Fachzeitschrift) war, wurde vom US-Magazin Time im Jahr 2005 zu den 25 einflussreichsten Menschen Amerikas gezählt. Die Pathologin und Internistin ist eine Institution in Sachen „Unabhängigkeit“, aber auch eine exzellente Insiderin.

Das Buch: „Die Wahrheit über die Pharmaindustrie“ (The Truth about the Drug Companies, so der Originaltitel), verlegt bei Random House in USA, erschien nun im Kompart-Verlag, der gesundheitspolitischen „Verlagsschiene“ von AOK und dem „Corporate Publisher“ mit Schwerpunkt im Gesundheitswesen wdv.

Das Vorwort: Prof. Dr. Norbert Schmacke hat die deutsche Ausgabe mit einem kleinen Vorwort versehen. Der Versorgungsforscher von der Universität Bremen fand das Buch so spannend, dass er ihm im Handelsblatt „beinahe-Krimi-Qualität“ zuschrieb.

Das Beispiel USA: Angell zeigt minutiös auf, wie die Pharmaindustrie sich besonders in den vergangenen 20 Jahren von ihrem ursprünglichen Ziel, der Entdeckung und Herstellung nützlicher Medikamente, verabschiedet und Politik und Ärzteschaft fest in den Griff genommen hat. Genau in dieser Zeit sind auch die Preise z.B. für Krebsmedikamente bei uns in astronomische Höhen geklettert.

Was der Markt hergibt: Die Amerikaner ärgern sich zunehmend über „Mondpreise“ für Medikamente, während sie die Kosten für Forschung und Entwicklung kritischer hinterfragen und die Gewinnspannen der Konzerne ins Blickfeld nehmen. Das Gefälle der Medikamentenpreise über nationale Grenzen hinweg zeigt, dass es auch anders geht. Insbesondere ältere Menschen, für die notwendige Medikamente mittlerweile nicht mehr finanzierbar sind, kaufen regelmäßig in kanadischen Apotheken ein, wo die Preise deutlich niedriger sind. Noch dramatischer ist die Situation für die über 45 Millionen Menschen, die in den USA gar nicht krankenversichert sind, ein Trend, der sich, am Rande bemerkt, auch bei uns mit rund 300.000 nicht Krankenversicherten bereits ankündigt.

„Ich-auch“ – keine Innovation in der pipeline? Hohe Arzneimittelkosten werden vielfach mit dem hohen Forschungsaufwand der Pharma begründet. Gewinnversprechender als Innovationen sind jedoch Nachahmerpräparate („Me-Too-Arzneimittel“). Marketingstrategisch treten sie als verbesserte Produkte in Erscheinung. Sind die Patente durch Veränderungen der Verabreichungsform und andere Strategien nicht mehr zu halten, schrauben Generika die Phantasiepreise der Medikamente auf ein realistischeres Maß mit mehr Bezug zu den Herstellungskosten herunter. Wenn das passiert, ist es – im Interesse des Profits – an der Zeit, mit einem geringfügig veränderten Präparat das alte Medikament selbst zu überflügeln und mit aufwändigem Marketing zu platzieren, weil das neue „das Bessere“ ist. Doch ist es das wirklich? Es ist oft schwer, sich hier Klarheit zu verschaffen. Endgültig Aufschluss geben erst Langzeiterfahrungen, in 20 Jahren wissen wir mehr. Dies ist für KrebspatientInnen eine bittere Erkenntnis, denn sie brauchen schnelle Hilfe und haben oftmals keine Zeit.

Die Macht des Geldes: Unabhängige Information zu Medikamenten muss von ausgewiesenen Experten bereitgestellt werden, die selbst keine finanziellen Interessen an der Informationsverbreitung und Vermarktung haben. Ärzte unabhängig auszubilden sei ureigenste Aufgabe medizinischer Fakultäten und ärztlicher Standesorganisationen. Angell vertritt die Auffassung, dass die Macht von „Schlemmen, Schmeicheln und Freundschaft“ und die Macht des Geldes zu Korruption und Missbrauch führen und stellt dar, wie entsprechende Mechanismen funktionieren. Ihre These: „Innovative Medikamente brauchen kein Marketing“.

Marketing vor Forschung oder „Forschung light“: Patente für die vielversprechendsten Substanzen werden in der Regel von Universitäten erworben. In den USA bekommen damit Universitäten – und zum Teil auch Wissenschaftler selbst – ebenfalls einige Krumen vom Kuchen. Bei dem Brustkrebs-Chemotherapeutikum Taxol war es zum Beispiel so. Knapp 30 Jahre wurden vorab an staatlich finanzierter Forschung am National Cancer Institute geleistet, bevor das Patent dafür an Bristol-Myers Squibb ging. Hohe Kosten in der Forschung? Ein riesiger Marketingapparat und viel Getöse um das Image, so Angell. Nicht Forschung und Entwicklung, sondern Profit und Marketing seien ursächlich für exorbitante Arzneimittelpreise. Die Ausgaben im Marketing übersteigen bei weitem die Kosten für Forschung und Entwicklung, wo die Industrie unzweifelhaft dennoch eine wertvolle Funktion erfüllt: Auch wenn einzelne Konzerne selbst keine neuen Wirkstoffe entdecken, entwickeln sie diese – durch klinische Studien z.B. – weiter und bringen sie auf den Markt.

Klinische Studien brauchen „Probanden“, also freiwillige Versuchspersonen. Bei der Suche kommen auch Selbsthilfegruppen ins Visier, denn nicht die amerikanische Arzneimittelzulassungsbehörde FDA, sondern die knappen Ressourcen an Probanden sind der Hauptgrund, warum die Markteinführung neuer Produkte sich verzögert. 2001 erhielten Ärzte in den USA im Durchschnitt 7.000 Dollar je eingeschriebener Versuchsperson.

Auch die Praxis, dass Pharmakonzerne die klinische Prüfung ihrer eigenen Medikamente überwachen, führe zur einseitigen Forschung zugunsten der Geldgeber, konstatiert Angell. Sie fordert die Übernahme und Überwachung der klinischen Studien durch eine staatliche Behörde. Klinische Studien seien zu wichtig, um sie von privaten Vertragsunternehmen allein durchführen zu lassen. Vorsicht in Sachen „Unabhängigkeit“ ist aber auch geboten, wenn Staat allein gemeint ist. Wissenschaft im unabhängigen „akademischen Umfeld“ stellt hier die notwendige Balance her.

Ist die FDA nicht unabhängig? Angell fordert die finanzielle Stärkung der Unabhängigkeit der Arzneimittelzulassungsbehörde FDA, damit sie ihre Aufgabe wahrnehmen kann, der Allgemeinheit in Sachen Medikamentensicherheit, Überwachung von Produktionsanlagen und wahrheitsgemäßer Werbung zu dienen. Dem steht entgegen, dass ausgerechnet die FDA durch Nutzungsgebühren „auf der Gehaltsliste der Industrie“ und damit in einem schweren Interessenkonflikt steht. Sie warnt, dass die Geschwindigkeit bei der Zulassung zu Lasten der Sicherheit gehen kann und fordert strikt, dass auch die FDA-Mitarbeiter keine finanziellen Verbindungen zur Industrie haben.

„Öffnet die Blackbox!“ Was Angell beklagt, sind Ausbeutung der Allgemeinheit durch wuchernde Arzneimittelpreise und erhebliche Transparenzmängel. Die Öffentlichkeit habe das Recht zu erfahren, wie hoch die Gewinnspanne ist und wohin die Gewinne fließen. Wie alle anderen Beteiligten im Gesundheitswesen schuldet die Industrie der Öffentlichkeit, so macht Angell eindringlich klar, die vollständige Rechenschaft, wie sie ihre gewaltigen Einnahmen verwendet.

Die Botschaft aus Marcia Angells Erkenntnissen ist unüberhörbar und fordert aus meiner Sicht als Konsumentin für ein menschengerechtes Gesundheitssystem, dass nicht nur die Menschen in unserer „modernen Konsumgesellschaft“ grundlegende Reformen – etwa im Gesundheitswesen – erdulden müssen, sondern dass dringlichst auch die Industrie – hier die Pharmaindustrie – an der Reihe ist, ihren adäquaten Beitrag für diese Gesellschaft, von der sie lebt, zu leisten.

Keine Konsumgüter wie andere auch: Medikamente sind etwas anderes. Übermedikalisierung, Multimedikation, Medikamentensucht, und dennoch: Von geeigneten Medikamenten hängen Gesundheit und Leben vieler Menschen ab. Wir brauchen Medikamente zum Leben. Sie sind keine normalen Konsumgüter, die wir nur konsumieren wollen und auf die wir einfach verzichten könnten, wenn sie unbezahlbar werden. Die ethische Dimension und Verpflichtung im Dienste von Menschen sind das, was fehlt – oder zumindest vernachlässigt wird –, trotz der Errungenschaften im Hinblick auf neue medikamentöse Therapien.

Das lesenswerte Buch bietet auch Frauen, die sich im gesundheitspolitischen Umfeld – z.B. rund um Brustkrebs – oder in anderen Frauengesundheitsorganisationen engagieren möchten, einen globaleren Überblick. Es erweitert den Horizont über die schöne Welt der Fachkongresse hinaus und regt ein kritischeres Bewusstsein zu den Pharmafirmen an, die Medikamente entwickeln, herstellen und auf den Markt bringen.

Diese Rezension ist auch erschienen in AKF-Info, (1) 2006
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BCAG | 5 weitere Rezensionen | Nov 8, 2010 |

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