Asne Seierstad

Wie anders wäre die deutsche Geschichte ausgegangen, wenn Adolf Hitler in Wien Anfang des letzten Jahrhunderts zum Kunststudium zugelassen worden wäre? Seine Persönlichkeit war übersteigert darauf aus, Anerkennung zu finden. Ebenso wie viele anderen bot das letzte Jahrhundert dem individuellem Können erstmalig Raum zur Entfaltung, nachdem Jahrhunderte vorher nichts als Unbedeutung und der Kampf ums nackte Überleben angesagt war.

Wenn ich das richtig sehe, dann gibt es keinen deutschsprachigen Menschen, über den so viele Bücher geschrieben, bei dem so tief in die Psyche eingedrungen wurde wie bei Hitler. Mittlerweile wissen wir nahezu alles darüber und einer der entscheidenden Punkte war wohl, dass er nahezu kein sexuelles Interesse zeigte.

Der dadurch entstehende Leerraum scheint eine Triebkraft ganz anderer Art zu sein, die geradezu besessen alternative Felder der Anerkennung absucht, um eine Ersatz-Bedeutung zu finden. Genau hier scheinen sich die uns bekannten Hitler-Analysen mit denen des Norwegers Anders Breivik zu treffen. Die Autorin recherchiert genau und detailgetreu Familien- und Freundesverhältnisse, die ein wohl zutreffendes Bild des Norwegers zeichnen, der auf seine mehr als traurige, fehlgeleitete Art in die Geschichtsbücher eingegangen ist.

Beim Lesen fragt man sich immer wieder, warum das Schicksal an jener oder jener Kreuzung nicht einen anderen Abzweig genommen hat. Wie anders hätte alles kommen können, wenn Anders Breivik (AB)

-ein erfolgreicher Graffiti Künstler geworden wäre?
-eine Chance als Politiker bekommen hätte?
-in seinem Umfeld anerkannt worden wäre?
-in einer funktionierenden Familie mit Vater aufgewachsen wäre?
-nicht 5 Jahre in World of Warcraft abgetaucht wäre?

Asne Seierstadt vermittelt das Leben von AB detailreich und ausführlich, basierend auf Interviews, die sie mit Verwandten, Freunden und Bekannten geführt hat. Sie skizziert vor allem auch die norwegische Parteienlandschaft bzw. deren Entwicklung von den 70ern bis heute. Und sie taucht tief ein in die Gedankenwelt AB’s, sie begleitet bzw. analysiert das von ihm geschriebene Buch, in dem der Kulturkampf als Zukunftsszenario beschrieben wird.

Soeben noch in der normalen Welt einer überversorgenden Mutter, taucht man ein in absurde Gedankengänge und Analysen eines Psychopathen, dessen Angst-Reflektionen ihren Grund gefunden hatten in metaphysischen Konstrukten anderer, Spiegelungen, die die Taktiken und Strategien der Anderen übernahmen. Wer World of Warcraft nicht kennt, wird tiefe Einsichten in dieses Spiel erfahren. AB tauchte 5 Jahre darin ein, spielte Tag und Nacht, war wohl sehr erfolgreich und Gildenführer.

Die Autorin verquickt das Buch mit dem Schicksal kurdischer Einwanderer und beschreibt die Entwicklung von Bano Abobakar Rashid, einem lebensfrohen mutigen, kurdischen Mädchen, die bei dem Massaker umkommen sollte. Ich habe nach diesem Buch meine eigene Trauerarbeit für diese sinnlose Tat u.a. dadurch vollzogen, in dem ich dieses Video anschaute: Wer waren diese 77 Opfer von Breivik wirklich? Die Lebensfreude dieses mutigen Mädchens ist gut erkennbar auf dem Bild bei Min. 9:52.

Man bleibt nach diesem schockierenden Buch einfach fassungslos zurück und wünscht, dass Ideologien oder metaphysische Konstrukte sich endlich aus dem Zusammenleben der Menschen für alle Zeit verabschieden.… (mehr)