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Roger Willemsen (1955–2016)

Autor von Deutschlandreise

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Über den Autor

Bildnachweis: Roger Willemsen auf der Buchmesse Leipzig im März 2014 By Gil Maria Koebberling - Own work, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=31989940

Werke von Roger Willemsen

Deutschlandreise (2002) 101 Exemplare
The Ends of the Earth (2010) 96 Exemplare
Das Hohe Haus: Ein Jahr im Parlament (2014) — Autor — 82 Exemplare
Der Knacks (2008) 52 Exemplare
Wer wir waren: Zukunftsrede (2016) 34 Exemplare
Kleine Lichter (2005) 32 Exemplare
Momentum (2012) 30 Exemplare
An Afghan Journey (2006) 27 Exemplare
Hier spricht Guantánamo (2006) 24 Exemplare
Karneval der Tiere (2003) 14 Exemplare
Bangkok Noir (2009) 10 Exemplare
Musik! (2018) 8 Exemplare
An der Grenze (1994) 4 Exemplare
Das Tier mit den zwei Rücken (1991) 3 Exemplare
Menschen aus Willemsens Woche (1996) 2 Exemplare
Unterwegs: Vom Reisen (2019) 2 Exemplare
Willemsens Jahreszeiten (2020) 1 Exemplar
Trauer,Wahn,Humor 1 Exemplar
Die andere Seite der Nacht (1998) 1 Exemplar
My Favourite Things (2011) 1 Exemplar
Das süße Gift der Sünde : Erotika (2009) — Herausgeber — 1 Exemplar

Zugehörige Werke

Der Garten über dem Meer (1967) — Herausgeber, einige Ausgaben224 Exemplare
Die wundersamen Irrfahrten des William Lithgow (1614)einige Ausgaben66 Exemplare
Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort! Die Weltgeschichte der Lüge (2007)einige Ausgaben18 Exemplare

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Rezensionen

Selbstverständlich ist vielen klar, dass im deutschen Parlament nur noch eine Art Schaulaufen stattfindet. Die Entscheidungen werden vorher getroffen, in Ausschüssen. Trotzdem ist es ein wichtiger Ort, an dem RW mit seiner unnachahmlichen Sprachwitz erstaunliche Dinge ans Licht bringt. Abseits des üblichen Geklüngels zwischen Massenmedien und Politikern schaut mit diesem Buch jemand in kleinste Ritzen des Verhaltens, Gesten, Mimik, Zwischenrufe, lächerliche Momente....ein Seismograph des parlamentarischen Betriebs im Parlament.

Ich habe zuletzt die Besprechung der FAZ gelesen, nicht mehr als ein Reiben an einem wirklichen Könner, abseits dessen, was dieses Buch tatsächlich erbringt. Alleine die Einleitung sei jedem empfohlen, der das Parlament besucht. Man erfährt vieles über die Entwicklung, den Zustand, die Architektur - bis hin zum repräsentativen Adler und wie er ausgewählt wurde, welche Ideen, Ziele dahinter standen. RW beschreibt die Transparenz, die jedem auffällt, der ganz nach oben geht, in die Kuppel, wo er zumeist irgend einem Parlamentarier begegnet, der seinen Verwandten den Ort seines Wirkens zeigt.

Es gibt einen Parlamentarier, den ich besonders aufmerksam nicht verfolge. Alle Talkshows mit ihm meide ich konsequent. RW schenkt ihm eine Viertel-Seite der Einwürfe, die dieser anläßlich einer Rede von Hubertus Heil zum Besten gibt. Ich möchte alle Aussagen von Volker Kauder zitieren: "Ha, ha, ha - Mann, war das eine tolle Nummer. Ha, ha, ha - Herr Heil, das glauben nicht einmal ihre Wohnzimmerfreunde. Mann, sind Sie ein primitiver Kerl. Sie arroganter Kerl, Sie. Aufgeblasener Kerl. Nein, ich bin ganz fröhlich. Weil Sie auf der Oppositonsbank sitzen, sind wir stark. Ha, ha, ha - Sie haben einen Totalausfall ganz woanders. Schauen sie mal Ihre Totalausfälle an. Die sitzen heute hier. Ha, ha, ha. - Genau." Exakt solches Kauderwelsch zeigt, wie tief man sinken kann.

Desweiteren beschreibt er einen Abgeordneten der FDP, der inzwischen nicht mehr zu Sitzungen darf, bis dorthin aber z.B. aufgefallen ist dadurch, zu behaupten, dass es nicht mehr Arme, sondern lediglich mehr Armutsberichte gäbe. Es ist Martin Lindner, ein besonders oft gesehenes Gesicht im TV, der m.E. dieser Partei mindestens 2% der Stimmen gekostet hat. RW beschreibt, wie er ihm begegnet auf dem Bahnhof und ihn vorübereilen sieht am Verkäufer der Zeitschrift für Obdachlose, nur um jetzt selbst parlamentsmäßig obdachlos zu werden.

RW erkennt durchaus, was Abgeordnete leisten müssen, er geht detailliert darauf ein. Niemand bestreitet dies. Sein Buch möchte aber den Blick auf jene Mechanismen der Kommunikation wenden, wo man davon ausgehen müsste, dass sich die Darsteller besonders gut und anständig benehmen sollten. Weit gefehlt. Charmant das ewige Geplänkel zwischen Gysi und Lammert, wenn es mal wieder um die Redezeit geht. Gysi, einer, der wirklich reden kann, frei von der Leber weg, und eigentlich immer richtige Dinge sagt. Man hört dies auch von CDU-Angehörigen in meinem Bekanntenkreis, aber eben auch von RW.

Welche Bedeutung hat das Parlament tatsächlich? Ist es heruntergekommen zu TV-Direktübertragungen und politischen Progpagandaveranstaltungen? Irgendwie schon, das Menschliche, in dem RW kleinste Nebensächlichkeiten erhellt, es ist da, wie überall, ein Abbild unserer Gesellschaft, ein Spielfeld für Akteure mit großen und größten Egos, von Anfängern und bemitleidenswerten Personen. Jener ist wer, der nach einer offiziellen Zählung am häufigsten das Wort ICH verwendete? Es war Peter Ramsauer, der zum Dank dafür wieder auf den harten Abgeordnetenbänken Platz nehmen musste.

Das Parlament diskutiert am liebsten Dinge, die im Zusammenhang mit Wertschöpfung stehen, schreibt RW. Exakt aus diesem Grund sollte man dieses Buch lesen, das penibel genau z.B. auf die Rüstungsexporte eingeht, die besonders hitzig und leidenschaftlich diskutiert werden. "Im Jahr 2011 gab es bei dem berühmten Bundessicherheitsrat, der ja zu entscheiden hat, ob ein Rüstungsexport genehmigt wird, 17586 Anträge auf Genehmigung des Exports von Waffen bzw. Rüstungsgütern. Von 17.586 Anträgen wurden 105 abgelehnt. Das sind gut 0,5 Prozent." Dagegen steht dann eine in allen Medien veröffentlichte Nachricht der Regierung, man gehe äußerst restriktiv mit Export-Zulassungen um.

"Für die FDP tritt Martin Lindner so vehement für Rüstungsexporte ein, dass einem Abgeordneten der Opposition ein "Unfassbar" entfährt, worauf Lindner erwidert: Wenn der Maßstab der politischen Debatte wäre, was Sie fassen können, dann bräuchten wir gar nicht weiter zu diskutieren." Nach einem verbalen Scharmützel fasst Herr Mißfelder zusammen: "Wir sollten nicht sensibelste Punkte der deutschen Außenpolitik zum Gegenstand parteipolitischer Auseinandersetzung machen."

Man versteht an diesen Beispielen, warum dieses Buch lesenswert und wichtig ist. Es erhellt jene verstaubten Ritzen und unerträglichen Schieflagen, die im Zuge einer traurigen Kungelei zwischen Medien und Politik nicht mehr sichtbar werden.
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Gekennzeichnet
Clu98 | 3 weitere Rezensionen | Mar 9, 2023 |
Man muss sich auf Roger Willemsen (RW) einlassen, jedem Satz aufmerksam langsam lauschen. Ich habe dieses Hörbuch 3x gehört, um eine Richtung, eine Nachricht zu verorten - in all den hochfliegenden, tief-philosophischen und rasch folgenden, komplizierten Sätzen. Der Sprecher in seiner tief liegenden, sicheren Tonlage passt nicht so ganz zu Willemsen. RW war skeptisch, zögerlich, nicht hart und tiefe Punkte setzend, mehr Wasserfall als ruhige See.

Konzept des Buches: Es geht um das Jetzt.
Wer sind wir, wo stehen wir, wie fühlen wir?

RW lässt zunächst einige Prognosen aus der Vergangenheit sprechen, Sätze, die wir erkennen: „Wer will denn Schauspieler sprechen hören. (Übergang vom Stummfilm zum sprechenden Movie) Der Fernseher wird sich nicht durchsetzen. Menschen werden bald müde sein, auf diese Scheibe zu starren. Die Zukunft gehört dem Pferd (Kaiser Wilhelm am Vorabend des Autos). Es gibt keinen Grund, warum jeder einen Computer zu Hause haben sollte. Das Internet wird 1996 in einer Katastrophe untergehen.“

Die Zukunft heute wird fabriziert. Modern als Begriff ist rapide gealtert, der Begriff wurde abgelöst durch schnell wechselnde In- und Out-Listen, Summationen des Computers. Modernisierer in Unternehmen heute wickeln Stellen ab. Der Mensch ist nicht mehr Subjekt des Handelns, sondern Objekt der Moderne. Die Lust an der Beschleunigung treibt uns weiter, hält uns ab vom Nachdenken.

Thema Medien:
Fotografie wird Kopie der Lebensgeschwindigkeit. Sonnenuntergang ist zur Bildtapete verkommen. Mediale Kunsterzeugung von Doubles. Öffentliche Personen entstehen durch Kalkül. Filialexistenzen floaten im Netz. Wir mittendrin.

Innehalten wird aufgegeben: Wer wir seien, tief hinab steigend in unser Herkommen, Quellen, Traditionen, Geschichte. Diese Bemühungen fehlen völlig. Woher kommen wir? Niemand weiß es. Unser Weg driftet vom Wohlstand in die Indifferenz. In das Dschungelcamp.

Where is the wisdom we lost in the knowledge? Aufklärung nur über Bewusstsein des Gegenwärtigen. Hier zu sein, in dieser Zeit, darum geht es. Nicht Zukunft, jetzt. Frage des Überlebens aller. Fragen, die uns überfordern. Bewusst zu werden, hieße in der Gegenwart anzukommen.
Aber wir alle sind geflohen in molekulare andere Bewusstseinszustände, in Parallelwelten, die uns von uns ablenken.

Der Zeitindex hat sich geändert: das in die Irre gehen des Flaneurs ist gewichen der Rasanz des Gegenwärtigen. Wir erwachen im goldenen Zeitalter der Ruhelosen. Die Fassaden der Werbung schreien uns an, immer etwas Hingeräckeltes, alles in Großaufnahme, die maximale Steigerungsform, das Riefenstahl’sche der Werbeexistenzen.

Dass wir nicht mehr können, erliegen, in der Kapitulation leben, wir fühlen es. Es gibt Waren gegen alle Miss-Stimmungen, käufliche Versprechen. Ein kaum mehr souveränes Ich lebt unter anderen dieser Spezies mitten in der Multiplikation von Aufmerksamkeitswerten, heillos ertrinkend.

Flüchtigkeit kultivieren, flache Aufmerksamkeiten. Second Screen Mensch: Ein sich selbst behäbig aufnehmender (individueller) Mutterkonzern, unerreichbar konfiguriert. Bilder strömen, Informationen schwirren aus. Apparate emanzipieren sich. Datenhalden fahren mit uns Schlitten, nützlich nutzlos. Das Haus wird zur Komfortmaschine, kurz genießen, weg. Weiter, next. Wir brannten aus in all der Reibungslosigkeit. Das Dorf machte Angst wie das Funkloch: Es kam dort ein Lärm, der uns rasend machte: die S T I L L E. Aggressiv wurden wir. Abwehrreflexe. Durchgangsmenschen, von der Zeit Niedergerungene. Souveränität ging von Staaten in Finanzkonzerne über, das Ich wurde geflutet, ging auf den Rückzug.

Menschen als Filialexistenzen sind Identifikationen mit Sektenstrukturen verhaftet, und die größte, vom echten Nachdenken ablenkende ist die Arbeit. Alles wird Kompetenz, Erarbeitung. Arbeit IST unsere Metapher, das eigentliche Narrativ, unser Orbit. Dadurch erfahren wir Schutz vor der Bedrohung, dem Protest, dem Nachdenken. Die Macht der Verhältnisse dominiert: Entmündigung, Marktsituation. Ihnen zu genügen, ist Realismus.

RW rekapituliert am Ende dieses Buches die Gefühle im erdnahen Orbit. Das Ästhetische daran ist was? Die Anschauung der Erde aus dem All löst aus (RW erzählt von Astronauten bzw. deren Aussagen): Demut, Poesie, Religiöses. Erster Blick. Ehrfurcht. Respekt. Achtung. Schöpfung. Heimatplanet. Verantwortung. Erdenbürger. An den Grenzen des Erreichbaren entdecken wir also das Kreatürliche, das Moralische und kehren zurück zum Kind, zum Säugling, zu dieser Geborgenheit der ursprünglichen Heimat.

Aufgehen in Arbeit, mehr nicht. Randvoll an Wissen, aber mager an Erfahrung. RW bezieht sich auf Giambattista Vico bzw. seine Neue Wissenschaft als ewigen Kreislauf des Entstehens und Vergehens: Erst das Notwendige, dann das Nützliche, Bequeme, Gefällige, Luxus, Dekadenz und dann finallemente das Zerstören des Erbes. [[ASIN:3110168901 Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker: Nach der Ausgabe von 1744]]

RW ist entsetzt von der Wucht der Barbaren, die heute Kulturdenkmäler niedertrampeln, er sieht darin nur ein symbolisches Bild, an dem wir alle symbolisch partizipieren. Ergo: wir zerstören durch unser Arbeiten bzw. Nicht-Nachdenken unser Erbe. Leider fehlt jegliche religionsgeschichtliche Einordnung bzw. die Zeichenhaftigkeit dieser Akte des Grauens auf unser Nachdenken und Rückerinnern. Dies hat eben umfassend eingesetzt, trotz aller Untergagnsszenarien wie auch dieses von RW. In allen Datenfluten stehen heute emanzipierte, Querverbindungen setzende, autonome, nachdenkende Individuen auf, die die Fluten sichten und den Wasserfall RW's interpretieren können. RW hätte etwas mehr Vertrauen zu seinen Mitmenschen haben können. In der größten Gefahr wächst immer das Rettende auch.

Mein Fazit: ein zutreffendes Untergangsszenario unserer rasant entfesselten Zeit, das ich gerne in seiner Fortführung gehört hätte. So schade, dass uns dieser Denker nichts mehr sagen kann. ____
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Gekennzeichnet
Clu98 | Feb 24, 2023 |
 
Gekennzeichnet
ladyinblue | Sep 21, 2021 |
Ein Jahr lang besuchte Roger Willemsen die Sitzungen des Deutschen Bundestages. Leider war es schon 2013, ist somit lange her. Und doch ist das, was er schreibt, immer noch höchst interessant, die Art, wie Debatten geführt werden, die Zwischenrufe, die Gemeinheiten, das Kalkül. Schüler müssen ohne Kaugummi auf die Tribüne, die Abgeordneten benehmen sich aber schlimmer, als man es einer Schulklasse durchgehen ließe. Zumindest würde ich meine Vorlesung bei so flegelhaftem Publikum abbrechen.
Interessant sind Benehmen und Stil der Politiker. Ich würde es gut finden, wenn jemand heute -mit der AfD im Parlament- den Staffelstab von Willemsen nochmal übernähme.
Ansonsten denke ich, natürlich ist jedem klar, dass die Arbeit in den Ausschüssen passiert. Und dennoch kann es nicht so sein, dass das Volk nichts von der Arbeit mitbekommen kann. Und die Wählerinnen und Wähler können nun mal eher die Parlamentsdebatten betrachten als die Ausschussarbeit.
Einige Zitate gaben mir zu denken, unter anderem das Zitat von Goebbels, die Demokratie in den demokratischen Parlamenten zu besiegen. Oder die Diskussion über den Armutsbericht mit dem unsäglichen Beiträgen der FDP. Dazu dann das Zitat von Jonathan Swift, das sinngemäß so geht: Wenn man in das Gesicht schaut, das Gott denen geschenkt hat, die Reichtum haben, dann weiß man, was er vom Reichtum hält.
Seltsamerweise hat das Buch dazu beigetragen, dass ich von manchen Politikern sehr viel Achtung habe. Es ist viel Arbeit und man muss vieles aushalten. Und viele sind auch anständig geblieben. Bei Manchen hat man wirklich den Eindruck, sie wollen das Beste für das Volk.
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Gekennzeichnet
Wassilissa | 3 weitere Rezensionen | Jun 22, 2019 |

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