Die Dreyfus-Affäre erschütterte Frankreich zum Ende des 19. Jahrhundert in den Grundfesten und offenbarte den tief sitzenden Antisemitismus in der französischen Gesellschaft: Der Artillerie-Hauptmann Richard Dreyfus, ein jüdischer Franzose mit elsässischen Wurzeln, wurde 1894 von einem Militärgericht des Landesverrats für schuldig erklärt und unter unmenschlichen Bedingungen auf der Teufelsinsel vor der Küste von Französisch-Guayana inhaftiert. Bereits kurz nach seiner Verurteilung fand der neue Leiter der zuständigen Spionageabteilung, Marie-Georges Picquart, Hinweise auf Unregelmäßigkeiten im Verfahren und konnte nach vielen Recherchen die Unschuld von Dreyfus beweisen. Doch statt den Justizirrtum aufzuklären und den eigentlich Schuldigen zu verurteilen, verschleppten die zuständigen Generäle das Verfahren, ließen Beweise verschwinden und schreckten auch vor Beweisfälschungen nicht zurück.
Harris erzählt diese verschlungene Affäre, die sich über mehr als 10 Jahre hinzog, sehr spannend aus der Perspektive von Picquart in der Ich-Form und im Präsens. Man folgt Picquart atemlos bei seinen Recherchen und erlebt mit, wie er wegen seines beharrlichen Eintretens für Dreyfus- einen Menschen, den er kaum kannte - in ferne Kolonien abkommandiert wird, seinen Dienstgrad verliert und schließlich mithilfe gefälschter Beweise selbst angeklagt und eingesperrt wird. Und so ist diese Geschichte nicht zuletzt auch ein beeindruckendes Beispiel für Zivilcourage. Würde man selbst unter solchen Umständen und bei so viel Gegenwind sich genauso standhaft für die Wahrheit einsetzen?
Kongenial ist die gleichnamige Verfilmung des Romans von Roman Polanski aus dem Jahr 2020. ( )

Der in seiner Thematik ebenso vielseitige wie kompetente
Autor - zuletzt "Angst" (ID-A 48/11) - dokumentiert in
seinem neuen Roman Hintergründe, Verlauf und Auswirkungen
der "Dreyfus-Affäre", deren skandalöse Umstände Frankreich
in eine schwere innenpolitische Krise stürzten. Sorgfältig
recherchiert und sehr detailversessen, gestützt auf
Dokumente, Briefe und Protokolle, erzählt Harris den Fall
des wegen angeblichen Geheimnisverrats an Deutschland zu
lebenslanger Deportation auf die "Teufelsinsel"
verurteilten Hauptmanns Alfred Dreyfus, der 1899 begnadigt
und 1906 rehabilitiert wurde (1898 informierte der
französische Schriftsteller Emile Zola die Öffentlichkeit
über die Hintergründe in einem offenen Brief - "J'accuse" -
an den damaligen Präsidenten). Die von starken
antisemitischen Strömungen geprägte Affäre enthüllte eine
unglaubliche Verschwörung; der Roman bietet trotz einiger
Längen einen geradezu kriminalistischen Thriller mit
wachsender Faszination für politisch und juristisch
interessierte Leser . ( )