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Téa ObrehtRezensionen

Autor von Die Tigerfrau

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Rezensionen

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Wenn ich dieses Buch lese, verbinden sich plötzlich mehrere Ebenen, die ich bisher immer einzeln mit dem ehemaligen Jugoslawien verbunden hatte und nie zusammenbrachte:
Das wunderschöne, karge Land am Meer, in dem man Urlaub machte/ der Bürgerkrieg mit all dem Entsetzlichem, das man darüber lesen und sehen konnte/ die Jugoslawen, die ich bei uns oder im Urlaub kennenlernte, mit Gitarre im Zug, meine Kollegen beim Kellnern und an der Uni/ die Flüchtlinge aus dem Kosovo/ meine Nachbarn aus Bosnien/ das Land, in dem man nun wieder Urlaub macht.
Dieses Buch verbindet nun all diese Ebenen irgendwie, denn es schildert sehr plastisch ein Jugoslawien, wie man es als Tourist auch kennen kann. Und es erzählt eine Geschichte, die in der Gegenwart spielt und doch weit in die Vergangenheit reicht. Natalja ist Ärztin, sie reist zu einem Waisenhaus und erfährt auf dem Weg, dass ihr geliebter Großvater überraschend verstorben ist, in einem Ort irgendwo auf dem Land. Im Buch verweben sich verschiedene Geschichten aufs wundersamste, die Mythen und Fabeln des Großvaters: Von Gavran Gailé, er nicht sterben kann; vom Tiger, der im zweiten Weltkrieg aus dem Zoo ausbricht und in des Großvaters Kindheitsdorf auftaucht. Aber bis in Nataljas jetziges Leben reichen diese Mythen, denn in dem Ort, in dem sie als Ärztin arbeiten soll, graben Männer einen Weinberg um, um die Leiche eines im Krieg vergrabenen Angehörigen zu finden und so endlich den Mora, den Totengeist zu besänftigen. Man muss schon genau lesen, um alle Verknüpfungen dieser Geschichten zu entwirren. Wenn das aber gelingt, eröffnet sich eine wunderbar reiche Geschichte mit tausend Bildern und Metaphern, schön zu lesen, erstaunlich zu lesen, unvergesslich zu lesen.
Das Buch hat unglaublich wuchtige Bilder. Oft sind es Tiere, die das ausdrücken, wozu Menschen nicht mehr fähig sind, es sind die Tiere, die menschlicher bleiben. Oder, wenn sie es dann doch nicht bleiben, wenn sie sich selbst auffressen, die Jungen fressen, dann erscheinen sie als mitleiderregend entsetzlich, entsetzlicher als Menschen, deren perverses Verhalten so normal erscheint. Komischerweise ist die berührendste Szene für mich besonders die Nacht vor Beginn des Krieges, als sich der Großvater und Gavran Gailé noch einmal treffen, im fiktiven Ort Sarobor (vielleicht Mostar?), bevor dieser dem Erdboden gleichgemacht wird, sich von einem würdevollen alten Kellner die leckersten Speisen bringen lassen und beide wissen, dass der Tod nun kommen wird.
Ich finde das Buch ausgezeichnet, es berührt und beeindruckt mich. Man kann kaum glauben, dass die Autorin so jung ist und schon mit sieben Jahren aus Jugoslawien wegzog. Das Buch ist zudem absolut wunderbar zu lesen.
 
Gekennzeichnet
Wassilissa | 334 weitere Rezensionen | Mar 1, 2015 |