Thilo Sarrazin
Autor von Deutschland schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen
Über den Autor
Bildnachweis: Thilo Sarrazin, Leipzig Book Fair 2014 By Lesekreis - Own work, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=31949930
Werke von Thilo Sarrazin
Europa braucht den Euro nicht: Wie uns politisches Wunschdenken in die Krise geführt hat (2012) 23 Exemplare
Feindliche Übernahme: Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht (2018) 16 Exemplare
Wunschdenken: Europa, Währung, Bildung, Einwanderung - warum Politik so häufig scheitert (2016) 15 Exemplare
Der Staat an seinen Grenzen: Über Wirkung von Einwanderung in Geschichte und Gegenwart (2020) 8 Exemplare
Soovmõtlemine : Euroopa, raha, haridus, sisseränne - miks poliitika nii sageli ebaõnnestub (2017) 2 Exemplare
Přání otcem myšlenky 1 Exemplar
Getagged
Wissenswertes
- Gebräuchlichste Namensform
- Sarrazin, Thilo
- Geburtstag
- 1945-02-12
- Geschlecht
- male
- Nationalität
- Deutschland
- Geburtsort
- Gera, Thüringen, Deutschland
Mitglieder
Rezensionen
Auszeichnungen
Dir gefällt vielleicht auch
Nahestehende Autoren
Statistikseite
- Werke
- 12
- Mitglieder
- 264
- Beliebtheit
- #87,286
- Bewertung
- 3.4
- Rezensionen
- 5
- ISBNs
- 32
- Sprachen
- 5
- Favoriten
- 2
Im Gegensatz zu vielen mehr oder prominenten Leuten, die in den letzten Wochen und Monaten Sarrazin-Bashing betrieben haben, habe ich das Buch nun gelesen. Es war keine Freude – das Buch ist dick und stellenweise nicht wirklich spannend, wenngleich es eher ein polemisches als ein Sachbuch ist. Leider komme ich nach der Lektüre zu dem Schluss: Die Sarrazin-Basher haben recht.
Thilo Sarrazin scheint mir – ähnlich wie das andere Kultur-Fossil Peter Scholl-Latour – ein alter Mann aus einer anderen Welt, verbittert von zu viel Erfahrung und zu wenig Wirksamkeit. Während Scholl-Latour in ein imperialistisches Frankreich gehört, sieht man Sarrazin vielleicht am besten im Muff der 50er Jahre in Deutschland. Ich habe keine digitale Kopie des Buches, um es statistisch zu untersuchen, aber das affirmative Wort “tüchtig” fiel mir als Begriff am häufigsten auf.
Wirklichen Rassismus bemüht Sarrazin selten, auch wenn er seinen Antiislamismus teils genetisch begründet – was eigentlich nicht nötig wäre, Bildungsdefizite von Nachfahren türkischer Einwanderer gegenüber denen anderer Migrationsquellen lassen sich auch soziologisch erklären. Aber die alte Schiene, Religionen biologistisch zu beurteilen, kennt man ja. In einem FAZ-Gespräch mit Frank Schirrmacher begründete er dann auch, warum er “auf die Biologie nicht verzichten wollte, um eine falsche Integrationspolitik zu korrigieren”:
Doch steigen wir in die Detailanalyse ein. Viele von Sarrazins Argumenten sind baugleich zu einer seiner einleitenden Aussagen (S. 9): “`Wer nicht lernt, bleibt unwissend. Wer zuviel isst, wird dick.´ Solche Wahrheiten auszusprechen, gilt als politisch inkorrekt [...].” Die Frage ist: Sind das überhaupt Wahrheiten? Beide Thesen werfen implizit vor, dass Unwissende bzw. Dicke selbst an diesem Zustand schuld sind. Man wird aber einem Unwissenden, der nie die Möglichkeit hatte, zu lernen, dies nicht vorwerfen können; für Fettleibigkeit gibt es diverse pathologische und sonstige Erklärungen und Ursachen, die oft nicht im Einflussbereich des Individuums liegen. Dennoch suggeriert Sarrazin mit seinem Appell an den common sense: So ist es, und die Wahrheit wird man ja wohl noch sagen dürfen.
Hierhin gehört auch Sarrazins Vorstellung vom Bildungslebenslauf eines “bildungsfernen” Kindes: Verpflichtende Kindertagesstätte ohne Fernsehen und “andere moderne Medien” (es sagt viel über Sarrazins Weltbild aus, dass er das Fernsehen zu den modernen Medien rechnet), kein Fernsehen und keine Computerspiele in der Schule, möglichst viel Zeit fern von zu Hause, um Medienkonsum zu begrenzen, Hauswirtschaft statt Mathematik, die über Grundrechnen hinausgeht, Zwangsuniformen, und schließlich: Sekundärtugenden und Geldbußen für die Eltern, falls diese nicht eingehalten werden.
Die ersten Kapitel über die gegenwärtige Situation in Deutschland laufen darauf hinaus, dass die gesellschaftlichen und staatlichen Rahmenbedingungen sehr gut sind, es aber letztlich an der mangelnden Motivation der Unterschichten scheitert, dass diese den Aufstieg schaffen. Sarrazins Lieblingswort aus der konservativen Mottenkiste – “tüchtig” – spielt auch hier wieder eine Hauptrolle. Sarrazin reduziert sämtliche sozialen Probleme auf Verhaltensdefizite, also individuelles falsches Handeln, das aber öffentlich totgeschwiegen wird. Auf gut deutsch: Der ALGII-Empfänger ist an Ernährungsproblemen etc. selbst schuld, Hartz IV reicht aus und hat damit also nichts zu tun. (Erstaunlich ist hierbei, dass er z.B. verschweigt, wie viel proportional geringer die Sätze für Kinder sind – es werden Erwachsenenhaushalte analysiert.) Die Demographie deutet darauf hin, dass die Deutschen aussterben – und dass Intelligenz vererblich ist und daher die Unterschichten verdummen: Die Intelligenz schafft den Aufstieg und verlässt die Unterschicht, dort reproduzieren sich nur noch die Dummen (und zwar weit erfolgreicher als die Intelligenten an der Spitze). Sozialleistungen zerstören Motivation und auf die Empfänger wird zu wenig Druck ausgeübt. Diese Thesen sind ja nun keineswegs neu, auch wenn Sarrazin hier und da neue, persönliche Beispiele einwirft. Nachdem er uns vorgeführt hat, wie dramatisch die Lage ist, kommt er zu seiner biologistischen Kernthese: Das kollektive deutsche Erbgut wird durch muslimische Immigration verschlechtert.
Bezeichnend ist Sarrazins geopolitische Einordnung der Türkei (S. 258): “Die geographische und kulturelle Grenze Europas ist dabei ganz klar am Bosporus zu ziehen.” Er belegt diesen Satz nicht, führt ihn auch nicht weiter aus – er vertraut wohl darauf, dass der common sense die Türkei ebenfalls von Europa separat sieht. Das mag an seinem christlich zentrierten Weltbild liegen, oder daran, dass er den Muslimen unter allen Migrationsgruppen die schlechteste Kosten-Nutzen-Bilanz ausstellt. (“Ein Teil der Intellektuellen und der liberalen Presse scheint sogar eine klammheimliche Freude zu empfinden, dass muslimische Einwanderung die deutsche Gesellschaft untergräbt.”, S. 289. Man beachte die typisch reaktionäre Formulierung “liberale Presse” – am wohlsten fühlte sich Sarrazin wohl in der Jungen Freiheit.)
War das alles bislang eher altbekanntes konservativ-reaktionäres Denken, folgen nun im achten Kapitel die Analyse der “Demographie” und die Forderungen an die “Bevölkerungspolitik”: “Mehr Kinder von den Klugen, bevor es zu spät ist.” Die von Sarrazin zuvor aufgezeigte höhere Fruchtbarkeit bildungsferner Schichten, insbesondere muslimischer Immigranten, trägt zur Verdummung bei und verschärft andere “Grundlasten” der demographischen Entwicklung (S. 346f). Die vorgeschlagenen Methoden, diesem Umstand abzuhelfen, umfassen übrigens keineswegs irgendwelche Mittel der Fortbildung der Migranten: Sarrazin hält sie wohl gar nicht für bildungsfähig (oder -willig: sie sind nicht tüchtig genug). Stattdessen kommen sehr alte Forderungen nach mehr Motivation durch weniger Sozialstaat etc. Gerade in diesem achten Kapitel wiederholt Sarrazin über viele Seiten bereits Gesagtes aus dem restlichen Buch.
Mein Fazit: Das Buch ist wichtig. Nicht, weil es interessante oder neue Fragen aufwirft oder weil es Fakten darlegt, die noch nicht bekannt waren. Im Gegenteil: Sarrazin legt uns ein konservatives Gesellschaftsbild vor, aus dem er klassische Sekundärtugenden als Schlüssel zum Erfolg destilliert. Das Buch ist wichtig (und seine Lektüre ist es auch), weil es jemand geschrieben hat: Sarrazin offenbart sich selbst mehr als den Sachverhalt. Das Buch ist vor allem als Primärquelle zu sehen, wie und warum heute über Integration gedacht wird. Es enthält zahllose geniale Stellen (wenn Sarrazin etwa zu beginn einräumt, er sei jahrzehntelang dafür bezahlt worden, wider besseres Wissen das genaue Gegenteil dessen zu vertreten, was er in diesem Buch sagt), die die Lektüre lohnenswert machen. Da Sarrazin umfassend auf den Werdegang des Buches von der ersten Anregung bis zu den Diskussionen, die er zur Erhärtung seiner Thesen führte eingeht, muss man Schirrmacher zustimmen, wenn er sagt, in “Deutschland schafft sich ab” stecke auch ein kleiner Bildungsroman. Ein sehr amüsanter übrigens – Sarrazin gesteht ein, er sei “stinkfaul” gewesen.
Wichtig ist das Buch auch in Bezug auf seine Leserschaft und die Anhänger von Sarrazins Thesen (wobei diese Gruppen oft nicht in Eins fallen dürften). Es würde mich nicht wundern, käme zukünftige Sozialforschung zu den Themen des Buches zu dem Schluss, dass die meisten Anhänger Sarrazins sich zwar für Angehörige der Mittelschicht und für “tüchtig” halten, nach dessen definitorischen Maßstäben aber eher zur verdummenden Unterschicht zählen. Insbesondere bei den Freunden der sozialdarwinistischen Ideen dürfte dies jedenfalls zutreffen.… (mehr)