Autorenbild.

Stefan ZweigRezensionen

Autor von Schachnovelle

797+ Werke 26,735 Mitglieder 879 Rezensionen Lieblingsautor von 141 Lesern

Rezensionen

Stefan Zweig ist einer der Größten der Literatur überhaupt: wirklich gebildet, nicht eingebildet, anständig, zutiefst menschlich, ehrlich - es war ein unglaublicher (Mehrfach-) Genuss, diese Quasi-Biografie zu lesen.

Die Inhalte? Ein Bericht aus Wien vom Ende des 19. Jahrhunderts, Großbürgertum, jüdische Kultur, ohne Religiosität, Hunger nach Bildung und Literatur, skizziert er individuelle und gesellschaftliche Entwicklungen von dort bis hin zu seinem freiwilligen Ende in Brasilien, wo er - in Heimatsehnsucht - dieses Buch geschrieben hat.

Mehr als eine Autobiografie ist es ein soziologischer Krimi vor, zwischen und während den Weltkriegen.

Ich komme nach diesem Buch nicht zu dem Urteil von Hermann Kesten Meine Freunde, die Poeten: Literarische Porträts, S. 23-36 Zweig könne ein farbloser Mensch gewesen sein - im Gegenteil. Er hatte weitgespannte, bunte Interessen, er war ein Großbürger mit "bedingungslosem Grundeinkommen", der sich mitfühlend und teilnehmend verhalten, der Freunden immer geholfen, der mutig neue Wege beschritten hat. Tatsächlich aber hat er Hermann Kesten in diesem Buch nicht erwähnt, möglicherweise eine Aussparung, die eine kleine Retourkutsche zur Folge hatte, die ich von Kesten eher peinlich empfinde.

Allerdings ist die Einordnung Stefan Zweigs durch seinen Freund Hermann Kesten in fast allen anderen Punkten möglicherweise richtig, ich empfehle die Charakterisierung durch Kesten allerdings erst zu prüfen, wenn man "Die Welt von gestern" gelesen hat. Für mich war es ein nochmals tieferer Zugang in die Welt von Zweig, eine freundschaftliche Annäherung der wirklichen erhebenden Art - die im Schluss allerdings zur Hälfte daneben zielt: "Stefan Zweig war im Kern ein bescheidener Mensch und hat sich selber und die Welt viel zu tragisch genommen." Jeder Autor nimmt Dinge tragischer als viele andere und sollte man es nicht tragisch nehmen, wenn einem seine geliebte Heimat genommen wird, wenn Darwin und Adolf alle fest gefügten, humanen Traditionen einstürzen lassen?

Die Fülle an großartigen Schilderungen Stefan Zweigs lassen eine wirkliche Welt von gestern aufleben, man begleitet ihn, er schildert unegoistisch und klar, bewegend, spannungsreich.

Diese Punkte sind mir besonders markant im Gedächtnis geblieben:

1) Kaffeehäuser in Wien waren für Schüler damals ein Zufluchtsort, eine Bibliothek, in der man alles lesen konnte, was modern und angesagt war. Der Eintritt: 1 Tasse Kaffee. Niemand wurde vertrieben. Ein Treffpunkt aller Klassen, von jung bis alt.

2) Der österreichische Kaiser Franz Joseph hatte eine besonders schützende Hand über alles Jüdische gelegt, man fühlte sich geborgen.

3) Eine jahrhundertelange Sicherheit lag auf seinem Elternhaus und allem Kulturellen in Wien, es atmete Theater, Schauspiel und Musik! Schauspieler, Sänger - sie waren echte Vorbilder damals, man redete dauernd über sie und hörte, sah sie live.

4) Seine Schilderung der Begegnung mit Theodor Herzl - ein unvergessliches Leseerlebnis. Man steht im Grunde neben Herzl.

5) Die spannende Öffnung des Briefes vom Verlag, der ihm die Zusage für das erste Buch schickte: unvergleichlich.

6) Das Gesamterlebnis "mein erstes Buch", bis in zum kindischen "In-die-Buchhandlungen-laufen", um zu sehen, wo man es auslegt: großartig.

7) Die Beschreibung französischer Schriftsteller und ihrer Frauen, sozusagen alimentiert mit bedinungslosem Grundeinkommen (staatlich ruhige Pöstchen), um abseits der Kritik unabhängig sein zu können: perfekt.

8) Berliner versus Wiener "Zimmervermieterinnen an Studenten": unvergesslich markante Unterschiede.

9) Der Einzug und die erste Zeit im Salzburger Haus.

10) Die unglaublichen Zeiten der Inflation und des Gütertausches ohne Geld.

Ich könnte diese Liste endlos fortsetzen.
Meines Erachtens eines der wichtigsten Geschichtsbücher überhaupt.
 
Gekennzeichnet
Clu98 | 76 weitere Rezensionen | Mar 10, 2023 |
Wenig andere, vielleicht Hesse noch, können derart gekonnt und klar die Lust am Lesen wecken wie Stefan Zweig. Er selbst hat lange zunächst andere aufgelesen, bevor er mit seinem Werk begann, er kann sich in andere Autoren, Bücher, in Verlage, in Genres der Literatur hinein-versetzen wie wenig andere.

Dabei ist immer seine klare und auf das Wesentliche verdichtete Sprache hervorzuheben. Studiert zu haben, und Stefan Zweig konnte mit einem bedingungslosen Grundeinkommen (er war Sohn eines Industriellen) locker und ohne Zwänge seinen Neigungen nachgehen, verpflichtet lt. Popper, sich verständlich und nachvollziehbar auszudrücken, so dass jeder Zugänge findet zur Literatur. Zweig ist der größte Könner in dieser Hinsicht.

Dieses Buch versammelt Geschichten, Rezensionen und Essays über das Lesen und die Verdichtung von Stoffen zu Büchern. Ich meine, dass dieses Buch in der Lage ist, auch hartgesottene Nichtleser zum Ein- und Durchgang in diese unvergleichlichen Welt zu führen.

Mit einer verwobenen Kurzgeschichte (Das Buch als Eingang zur Welt) startet diese Anthologie der Wesensglücksmerkmale des Lesens. Zweig liest einem Seemann einen Liebesbrief vor, den dieser nicht aufnehmen kann, weil der Analphabet ist. Alleine die Beschreibung des Mannes, sein Hinhören beim Vorlesen und die daraus zu ziehenden Konsequenzen, es berührt tief. Letzter Satz: "Je inniger man mit Büchern lebt, desto tiefer erlebt man die Gesamtheit des Lebens, denn wunderbar vervielfacht, nicht nur mit dem einen Auge, sondern mit dem Seitenblick unzähliger sieht und durchdringt dank ihrer herrlichen Hilfe der Liebende die Welt." (S. 17)

Was mich an Zweig immer wieder erstaunt sind seine Anfänge. Man liest den ersten Satz, den zweiten und die Spannung beginnt zu wirken. Wenige schreiben anfangsfesselnder als er. In der Kurzgeschichte "Rückkehr zum Märchen" ist dies besonders dramatisch der Fall. Nach einem Spaziergang mit Wolkenbruch findet er sich in einem Bauernhaus wieder, freundlich aufgenommen von einer schlicht weiter arbeitenden Bauersfrau. Sein Blick geht auf die umliegenden Bücher: "Mechanisch greife ich danach, aus jener Neugier nach Büchern, die mir schon verhängnisvoll tief im Blut sitzt und fast unbewusst nach Gedrucktem verlangt." (S. 63) Er umreißt im Fortgang der Geschichte, in wie vielen unterschiedlichen Weisen man Märchen lesen kann, eine Bereicherung in allen Stufen der individuellen Entwicklung. Und dann dieser Satz am Ende: "Denn wo Natur ist, waltet auch das Wunderbare, und ihre eigene Unbegreiflichkeit beglaubigt die verwegenste Träumerei." (S. 73)
 
Gekennzeichnet
Clu98 | Mar 10, 2023 |
Niemand hat sich vor seiner eigenen Schreibkarriere so ausführlich für andere interessiert wie Stefan Zweig. In diesem Buch skizziert er den Unterschied zwischen einem Romanschriftsteller und Romanciers. Letztere entwickeln seiner Meinung nach originäre Welten, Kosmen mit eigenen Gravitationsgesetzen und einem entsprechenden Sternenhimmel. Romanschriftsteller hingegen sieht Zweig als lediglich enzyklopädische Genies.

Tatsächlich redet man heute von einer balzac'schen oder einer Dickens-Figur, Indizien dafür, dass diese Unterscheidung tatsächlich in den geschaffenen Universen ihren anerkannt verbindlichen Ausdruck findet.

Jeder der 3 Schriftsteller hat seine eigene Welten-Sphäre: Balzac die der Gesellschaft, Dickens die Welt der Familie und Dostojewski die Welt des Einen und des Alls.

Die 3 Essays von Zweig erfordern Grund-Kenntnisse der beschriebenen Autoren, sie sind psychologisches Zentrieren auf das Wesentliche, Sublimierung, Kondensierung – Extrakte auf tiefstem und höchsten Niveau.

Beispiel Balzac:

So wie Balcaz mit seinem Roman-Universum die Geschichte des Napoleonischen Frankreich zeichnet - nicht als Historiker von außen, sondern als antreibender und getriebener Mensch, so beschreibt Zweig die Umstände der damaligen Zeit und des Getriebenseins von Balzac. "Vor dem großen Garten, der aus Paris hinausführt in die Welt, wuchs ein Triumphbogen auf, dem die besiegten Städtenamen der halben Welt eingemeißtel waren, und dieses Gefühl der Herrschaft, wie muss es umschlagen in eine ungeheuere Enttäuschung, als dann fremde Truppen mit Musik und wehenden Fahnen durchzogen durch diese stolze Wölbung." (S 17)

"Was außen in der durchströmten Welt geschah, wuchs nach innen als Erlebnis." Der fieberhafte Ehrgeiz, gleichsam die Welt zu umfassen, ihn hatte Napoleon in ihm geweckt, Balzac übersetzte alle zerfallenden Werte, das Durcheinander neuer Geschäfte im pirvaten wie im öffentlichen Raum, er zieht mehrerer Kreise um das Zentrum der Welt, um Paris: den Adel, die Geistlichkeit, die Arbeiter, die Dichter, dei Künstler, die Gelehrten. Alles jagt er durch ein Sieb, das Unwesentliche bleibt zurück, um reine, charakteristische Formen zu destillieren. Kein Winkel der Welt, der von Balzac so nicht ausgeleuchtet wurde. "Seine Charaktere müssen die Waffe, die sie aus ihrer Jugend geschmiedet haben, noch eintauchen in das brennende Gift der Erfahrung." Balzac hat als einer der ersten überhaupt gezeigt, wie Geld nach dem Niedergang des Adels, in alle Ritzen und Überlegungen der Gesellschaft eingeflossen ist und alle und jeden korrumpiert. Nichts daran hat sich heute geändert, nur die Spielzeuge der Macht und der Liebe, ein ewiges Ringen zum Verstecken der eigenen Unzulänglichkeiten.

Diese Sätze sind nur leise Andeutungen dessen, was den Leser erwartet, im unverwechselbar klaren Stil Stefan Zweigs, der Sätze konstruieren kann, die für die Ewigkeit klingen, der mit anderen mitschwingt als ob er der/die andere wäre. NIemand hat m.E. bessere Biografien geschrieben als er, einer der neidlos in anderen Umlaufbahnen mitflog, um anerkennend davon zu berichten.
 
Gekennzeichnet
Clu98 | Mar 10, 2023 |
Wenig andere Autoren haben wie er dafür gesorgt, dass andere Dichter bekannt wurde. Stefan Zweig hat bedeutende Biografien geschrieben und seinen Freunden Ermutigung und Hilfe zukommen lassen. Zweig ist ein wahrer Europäer gewesen, ein Weltbürger, immer auf der Suche nach Frieden und Freunden.

Dieses Lesebuch ist für Zweig-Einsteiger ebenso geeignet wie für jene, die vermeintlich von ihm schon alles kennen. Es enthält Bekanntes wie die Schachnovelle, Verwirrung der Gefühle oder 24 Stunden aus dem Leben einer Frau, aber bislang noch nicht in Buchform veröffentliche Werke aus dem frühen und späten Schaffen Zweigs.

Besonders beeindruckt hat mich "Vergessene Träume", ein Prosatext, den Zweig im Alter von zwanzig Jahren geschrieben hat. Zwei ehemals LIebende treffen sich wieder und breiten auf 6 Seiten eine ganze Welt von Träumen aus, sich ehrlich auf den anderen einlassen könnend, weil es kein Comeback gibt. Schon hier deutet sich m.E. die Fähigkeit von Stefan Zweig an, kurz und ohne Sand im Getriebe schreiben zu können. Er beschreibt dies inDie Welt von Gestern: Erinnerungen eines Europäers als ein zentrales Anliegen seiner Texte: alle wurden von ihm nach dem ersten Fertigstellen soweit verkürzt, dass jeder Satz einen Sinn ergab, ohne Füllmaterial, spannend und direkt am Herzen lesbar.

"Ich habe das Bedürfnis nach Freunden wie nie", schrieb Stefan Zweig am 25.9.1937 in einem Brief an Joseph Roth. Im zweiten Teil dieses Buches werden deshalb neben anderen Themen eine Reihe von Freunden in Essays erhellt, insbesondere das Geistesleben Wiens steht vor dem geistigen Auge wieder auf, man spürt das Talent zur Freundschaft von Zweig, seinen unvergleichlich gütigen Charakter ganz nah.

Äußerst erhellend der Essay "Wege zum deutschen Ruhm" (S. 404-405), in dem Zweig über den Literaturbetrieb keine Milde walten lässt. Unter Punkt 5 lesen wir: "Schaffe Dir eine Spezialität, irgendeine Etikette zur Bequemlichkeit für die Literaturgeschichtenfabrikanten. Man gibt Dir sonst eine unbequeme, also achiffiere dich lieber selbst." Es liest sich im Grund wie eine Anleitung für all jene, die auch heute berühmt und in aller Munde sein wollen. Was Zweig aber nie wollte, seine Bescheidenheit, sein Ekel vor Ruhm sind tief innerlich in vielen Texten spürbar.

Umso mehr hat er Worte der Unsterblichkeit für andere gefunden, seine Rede am Sarg Sigmund Freuds ist irgendwie auch eine Selbstbespiegelung seiner Person, Freud charakterisiert er als jemand mit klarer Strenge des Geistes und einer unvergleichlichen Güte des Herzens. "Wer ihn erlebt in diesen seinen letzten Jahren, war getröstet in einer Stunde vertrauten Gesprächs über den Widersinn und Wahnsinn unserer Welt, und oft habe ich mir in solchen Stunden gewünscht, sie seien auch jungen, werdenden Menschen mitgegönnt, damit sie in einer Zeit, wenn wir für die seelische Größe dieses Mannes nicht mehr werden zeugen können, noch stolz sagen können: ich habe einen wahrhaft Weisen gesehen, ich habe Sigrmund Freud gekannt." (S. 492)

Wenn man schreiben möchte, muss man vor allem andere lesen. Zweig hat zunächst aufgelesen, andere gefördert, um dann erst sein eigenes Destillat zu entwicklen. Sein Netzwerk unterschiedlichster Freunde wird in diesem Buch lebendig, sein Denken beflügelt, auch nach all der Zeit, es ist zeitlos schön, fokussiert auf das Wesentliche, in dramatischer Spannung gelingt es Zweig, die Kern-Fragen der Menschheit zu ver-dichten.

Dieses Buch ist zum Kennelernen all dieser Facetten ein weiteres, wunderschönes Puzzle, das jedem etwas geben wird. Natürlich war Stefan Zweig ein Großbürger und hatte Geld, aber er hat damit mehr gemacht als viele anderen: er hat es vielfältig verschenkt, geteilt, um seine Zeit sinnvoll für den Frieden einzusetzen. Er war Wiener, Jude und Europäer, Weltbürger, er musste höhere, leidvollere Stufen nehmen als viele anderen.

2014
 
Gekennzeichnet
Clu98 | Mar 10, 2023 |
Unterwegs sein heißt Schicksale hören und über sie nachdenken bzw. nach-empfinden. Wie kein anderer war Stefan Zweig weltweit "verzweigt" und fähig, Seelenlagen anderer aufzuspüren. Man könnte sich vorstellen, dass er das Leiden des Arztes in Indien irgendwo aufgenommen und tief innerlich verarbeitet hat.

Möglicherweise hat er niemand zugehört, sondern einfach Blicke aufgenommen, Nachrichtenmeldungen hinterfragt und sich auf ihre Spur zu den Ursachen begeben. Andere machen aus so einem Fall 600 ermüdende Seiten, Zweig bringt ihn auf atemlos spannenden, weit kürzeren Umfang, er schreibt frei von Lückenfüllern und Sand in den Sätzen.

Kriminologen erklären immer wieder, wie normal Menschen oft lange funktionieren - bis zu dem Punkt, als ihnen plötzlich jene inneren Widerklänge entgegen blicken oder hallen, die aus ihnen reißend gierige, vernichten wollende Bestien macht. Es gibt Menschen, die Arroganz und Überheblichkeit anderer spüren und sich davor unendlich ekeln, ihre aufgestauten Erlebnisse verlangen irgendwann nach Erlösung. Äußeres, das sich innen manifestiert, gleichsam mit Blicken übertragen, wie Müll abgeladen sehnt sich nach Ausgleich.

Um einen solchen Müll geht es in Amok - ich bin mit Zweig auf dem Kreuzfahrtschiff gewesen und habe die Nöte des Erzählers aus Indien, sein Leben und die Erlösungen mitgespürt - das Leiden von Menschen wird nur durch Menschen erzeugt und keiner blickt in den anderen, keiner kann den Nächsten in seinen ureigenen Gefühlen so ganz erfassen, keiner weiß, was er mit Blicken und Worten bei anderen anrichtet. Jeder Mensch hat seine eigene Verarbeitungskapazität, seinen eigenen Siedepunkt.
 
Gekennzeichnet
Clu98 | 24 weitere Rezensionen | Mar 10, 2023 |
Oftmals liest man von Isolationshaft, ein Zimmer, Bett, Stuhl und Tisch, nichts sonst. Abwechslung nur durch Verhöre. Tägliche Routine in vielen Staaten heute und natürlich im Hitler-Deutschland.

Menschen, die das erleiden, fallen zurück auf sich selbst, die innere Fülle oder eine bodenlose Leere.

Wie kreativ kann ich dann mit mir selbst umgehen, kann ein Buch das Leben retten, bin ich in der Lage, die Gefangenschaft zur inneren Befreiung umzudenken?

Stefan Zweig schreibt ohne das sandige Strecken-Netz vieler Romane, die mit Nebensächlichkeiten endlos aufblähen, man steht als Gefangener neben dem Mantel des Offiziers und spürt das begehrte Buch.

Dabei entwickelt sich die Erzählung mit absoluter Hochspannung bis zum Ende. Der eine (Schachweltmeister) kann nur das Eine besonders gut, ein Glücksfall, dass seine Fähigkeit entdeckt wurde.

Der andere (Gefangene) ist umfassend gebildet und macht aus jeder Situation bzw. einem einzigen Buch alles: durch seine innere Kraft, seine Kreativität und umfassendem Interesse für andere, für Zusammenhänge und seelisches Mitgefühl.

Tief eintauchen in die Problematik und Seele eines Anderen, in Nöte und Verzweiflung, wenige haben das drastischer, klarer und echter geschildert als Stefan Zweig.

Jeder Satz ein Gewinn, jede Überlegung tief empfundene Hilfe-Stellung und Ermutigung.
 
Gekennzeichnet
Clu98 | 116 weitere Rezensionen | Mar 10, 2023 |
Es ist eines meiner Lieblingsbücher von Stefan Zweig gefüllt mit Briefen, Essays, Danksagungen, Rezensionen u.v.m. - insgesamt 35 unterschiedliche Themen.

Zu Beginn - bei Constantine Meunier - steht: "Die Kunst hat eigene Formen der Entwicklung. Nicht geradlinig, langsam und zielbewusst, wie die exakten Wissenschaften, hebt sie sich immer stolzer empor, sondern ihr Weiterschreiten ist ein fortwährendes Ringen und Sichentfalten der gegensätzlichen Kräfte."

Oft gefällt mir der bewundernde Ton heroischer Naturen nicht so sehr bei Zweig, aber weiterextrapoliert hätte er im Heute mit Sicherheit davon Abstand genommen, um dem Kollektiv, der Weisheit der Vielen entsprechenden Raum zu geben. Trotzdem hat Zweig aufrichtig bewundert, gefördert und sich in seinen späteren Jahren nahezu ganz dem Frieden, der Versöhnung gewidmet. Sein Ringen ging von der Verherrlichung des 1. Weltkrieges (wohl niemand konnte sich damals diesem entziehen) bald über zum bedingungslosen Pazifisten und Verächter des Nazideutschland. Seiner Heimat entflohen, war Brasilien die letzte Station.

Ab Seite 332 beschreibt er den Schöpfungsprozess Balzac's, den man pauschal ob seiner Gesamtfülle des Werkes schlicht bewundern muss. "Balzac ist ein Genie der Fülle und der vielleicht größte Heros der dichterischen Arbeit." Zweig skizziert den unermüdlich schöpfenden Balzac, dem täglich ein Wasserfall an Sätzen zuströmt. Balzac hat von fast allen seiner monumentalen Werke bis zu 12 Korrekturexemplare benötigt und permanent verändert - zum Entsetzen aller Drucker und des Verlages. Es gab sogar einen Balzacomanen, einen Sammler, der sich auf die Spur all dieser Satzfahnen gemacht und Balzac umfassend nachgespürt hat: Comte Spoelbergh van Loevenjoul. Diese Sammlung ist heute in Chantilly, in einem kleinen Schloss zu besichtigen, fast größer als das Goethe Museum in Weimar, ein Höhlenlayrinth der Korrekturbögen Balzacs, Zweig schreibt zu Recht, dass man dort Balzac fast greifen, ihn in seiner Arbeit direkt nachempfinden kann.

"Denn nun, wenn der bewusste Künstler in ihm das Gedruckte vor sich sah, die Phantasmagorie, die der wütige Träumer in ihm im Fieber der Nacht hingeschrieben, so überkam ihn eine Art stilistische Wut. Mit wilden Schlangenlinien stellte Balzac die Worte um, schaufelte ganze Sätze weg, stopfte Absätze zwischen die Zeilen, überschüttete mit sechs oder sieben Seiten neuen Manuskriptes die einzelnen Fahnen, ließ hundert Einschiebungen, die vergebens mit Ziffern und Zeichen versehen wurden, auf einem Blatt wirr durcheinander wirbeln...." Balzac, der Schrecken aller Setzer und Drucker, sie weigerten sich länger als eine Stunde Balzac, diesen Hexensabbat der Worte, zu setzen. Zweig, der ihm auf seine unnachahmliche Weise nachspürt, er selbst ein leidenschaftlicher Handschriften-Sammler, ganz in seinem Element in diesen sich überschlagenden Beschreibungen.

Stefan Zweig ist für mich in seinen klaren, schönen Sätzen wie ein Korkenzieher, der kreative Schaffensprozesse wie kein anderer nachempfinden kann, ja diese am Anfang seiner Werke betrachtet, geübt, nachgeahmt hat, um sie selbst unvergleichlich in einen eigenen, klaren Stil zu bringen. In der Welt von gestern, seiner Biografie, beschreibt er seinen eigenen Balzac-Korrektur-Wahn: alles müsse befreit, klarer, einfacher, verständlicher werden. Für mich einer der Gründe, warum Zweig jedem, der sich auf ihn einlässt, diese Korrekturzeit schenkt, die Zusammenhänge klarer und Emotionen plastischer werden lässt. Andes als Balzac aber ist Zweig ein Meister des wirklichen Kürzens, während Balzac seine Umfänge immer weiter treibt, wohl leider auch körperlich.
 
Gekennzeichnet
Clu98 | Mar 9, 2023 |
Es gibt Tagebücher, die eigentlich in Romanform oder als Vermächtnis, gar als Rechtfertigung geschrieben wurden. Ganz anders bei Stefan Zweig. Er schreibt einfach auf, was war, ganz ohne andere Gedanken, banal oft, aber gerade deshalb äußerst erhellend. Eine Erinnerungsstütze für sein Leben und Schreiben. Er kann allerdings nur schreiben, wenn der Überdruss am Leben nicht ganz so groß ist. Ab 1918 (nach dem Untergang seiner guten, alten Kaiserwelt) setzt er seine Notate lange aus. Erst 1931 beginnt er wieder zu schreiben.

Wer seine Memoiren Die Welt von Gestern: Erinnerungen eines Europäers gelesen hat, wird irgendwann bei diesen Tagebüchern landen, ich bin sicher.

Neben allen Details und eher unwesentlichen Alltagsdingen blitzen immer wieder markante Sätze auf, die Zweig kennzeichnen, ja seine Richtungen skizzieren. Am 4. Mail 1913 schreibt er: "In Neuwaldegg mit der Telex.Asp. - drollig und ahnungslos begierig. Zu leicht für mein Gefühl, zu hundsjung, zu töricht. Ich habe Angst vor dem Schicksal anderer, will da kein Wettergott sein."

Welche Brief er schätzt, lesen wir am 5. Mai 1913: "Brief Marcelles aus dem Hospital. Ein Brief ohne Vorwurf und darum siebenfach ergreifend. Ich schäme mich der Ferne. Der Brief ist für mich eine Mahnung ins Gefühl zurück."

Mir gefällt der Stenostil, er lässt einen rasch in den beginnenden 1. Weltkrieg einsteigen, man lebt mit Zweig, sein Hoffen und Bangen, Siege und Niederlagen, das alltägliche Leben in Wien geht weiter, mit Angst und Zuversicht wartet man auf die (sich widersprechenden) Nachrichten. Vom Rausch erster Siege zur tiefen Depression, die Wandlung zum Kriegsgegner, alles Üble des Krieges erfährt er und lässt es in sich wirken, um Neues zu greifen, z.B. in Nachrichten aus USA: "Deutschland ist dort kurzweg der "enemy", ein Hass strömt einem entgegen, der schauern macht!

Im Oktober 1939 beendet er sein Tagebuch, um dann in 1940 doch noch ein Englisches zu beginnen, über den Krieg, aber der Überdruss ist spürbar im Oktober 1939: "Was ich nicht erwartet hätte, ist eingetreten - ich bin dieses Tagebuchs müde geworden, weil ich zu angewidert war von der Entwicklung dieses Krieges. Es ist schwer, die Zeitungen ohne Abscheu zu lesen, diese Propaganda, die denkbar dumm ist und mich fühlen lässt, dass ich es tausendmal besser könnte - besser und aufrichtiger." Und am nächsten Tag, dem 17. Oktober 1939: "Immer dieselben Versäumnisse der Menschheit, ein Mangel an Einbildungskraft, durch und durch! Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Krieg nur 3 Jahre dauern soll - die Macht der Zerstörung ist so erschreckend weit fortgeschritten, dass schon ein einziges Jahr die ganze Welt in Armut stürzen würde."
 
Gekennzeichnet
Clu98 | Mar 9, 2023 |
Inflation und ihre desaströsen Folgen in einer Familie begreifen können - darin entwickelt sich die Tragik dieser Geschichte.

Ein Kunstexperte besucht einen Sammler, der ihm seine Stücke präsentiert. Leise, unspektakulär wird die Handlung gesponnen, in klarer, packender Sprache, der Beginn verlangt das Ende, man kann nicht stoppen zwischendrin. In der Tat könnte man nach diesem Erlebnis feststellen, dass Sammler glückliche Menschen und durch ihre Leidenschaft in der Lage sind, begeistert zu sein und das Leben vielleicht sogar besser meistern können als andere.

Ich bin der Meinung, dass leidenschaftliches Sammeln Ausdruck einer Angst ist, der Furcht vor Verlust und Bedeutungslosigkeit. Auf der anderen Seite kann Sammeln reiner Ersatz sein für fehlende Eigenschaften. "Die Seele des Liebenden ist das Gegenteil der Seele des Sammlers." (Tennessee Williams)

Tatsächlich könnte man den Protagonisten in Stefan Zweigs Novelle als jemand ansehen, dessen Liebe völlig in seine Sammlung geflossen ist, obwohl er von seiner Frau und der Tochter tatsächlich geliebt wird, blind für die seelischen Hoffnungen seiner Umgebung, völlig überfüllt mit seiner Lust am Sammeln. Sie hält ihn davon ab, in der Gegenwart anzukommen, ein schönes Gefängnis zum Überleben.

Man muss wissen, dass Stefan Zweig selbst leidenschaftlich gesammelt (Originalhandschriften) und diesen Schatz auf seiner Reise um die Welt als eine Art Heimat angesehen hat. Auch bei ihm, nachzulesen in Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers., hat Sammeln also etwas Anderes substituiert, wobei die Sinnhaftigkeit sowohl in "Die unsichtbare Sammlung" als auch bei Zweig im Grunde vollkommen nachvollziehbar ist. Wenn Sammeln allerdings ganz von einem Besitz ergreift, wird es zu einem ruinösen Laster, das in der Lage ist, alle Daseinsprobleme wegzuwischen, um in einer Art Parallel-Traumwelt zu leben.
 
Gekennzeichnet
Clu98 | 1 weitere Rezension | Mar 7, 2023 |
Beginnendes Erkennen der Gefühle.,

Gefühle zu spüren, in ihrer ganzen Vielschichtigkeit, auf den Stufen vor dem eigentlichen körperlichen Begehren, dies ist Inhalt dieser Novelle.

Die Welt aus der Sicht eines bald verstehenden, aber jetzt noch ahnungslosen, träumenden Jungen: Stefan Zweig versteht es meisterhaft, zwischen der Liebe zur und die Angst um die Mutter zu wechseln, seine Sprache trifft mitten und kommt mitten aus dem Herzen. Das Brennen des Jungen lodert durch die Sätze, er versteht noch wenig, ahnt Vieles - alles erklärt in Formulierungen ohne nebelige Satzungetüme, natürlich verbunden mit sehnend wissen wollenden Gedanken.

Die Höhen und Tiefen der Vorpubertät - angeschoben durch ein schönes und ein danach folgendes, gefahrvolles Erlebnis - beginnen hin und herzuwehen, die Bindung zur Mutter hebt sich auf ein neues, nicht gekanntes Niveau.

September 2014
 
Gekennzeichnet
Clu98 | 19 weitere Rezensionen | Mar 7, 2023 |
Alleine die spannend brutale Schilderung der Eroberung Konstantinopels ist schon ein eindrücklicher Erinnerungsschatz für ein Ereignis, dessen Ende auch heute noch nicht abzusehen ist. Ein zentraler Ankerpunkt der Geschichte, kurz vor der europäischen Aufklärung. 1683 vor Wien und die Zurückschlagung, Europa brauchte lange, um zu begreifen, dass die eigenen Werte schützenswert sind. Nach 1683 konnte dank der Polen, die Wien in größter Not beistanden, die Umgestaltung Europas hin zu Wissenschaft und Erfolg erfolgen, abseits drangsalierender Kirchen.

Heute ergeht sich ganz Europa im beruhigenden, byzantinischen Reden wie 1453, und jeder, der Kultur- und Religionsgeschichte versteht, weiß was droht. Das Vorgehen deutscher Politiker und ihre Diskussionen erinnern heute an den Fall von ­Konstantinopel. Christliche Kleriker diskutierten damals über religiöse Probleme, während ein gieriges Heer die Stadt belagerte und schließlich die christliche Hagia Sophia entweihte. Die danach ziemlich erfolglosen Eroberer (ihre simple Geschäftsidee war nur Landnahme, Plündern und Versklaven) nennen unnötige Debatten im Rückgriff auf dieses Ereignis „byzantinisches Geschwätz“.

Ein schön aufgemachtes, großes Hardcover-Buch, gut lesbar, mit hohem Zeilendurchschuss und Lesebändchen sowie ganzseitigen Illustrationen, für einen Stefan-Zweig-Fan ist dieses Buch ein echter Genuss, ein Wiederlesen seiner Sternstunden der Menschheit. Stefan Zweig verdichtet in seinen Miniaturen schicksalsträchtige Momente der Weltgeschichte in spannend individuelle Erzählungen. „Auch in dieser geheimnisvollen Werkstatt Gottes, wie Goethe die Historie nennt, geschieht unaufhörlich viel Gleichgültiges, Alltägliches.“ Aus diesem Fluss gehoben lesen wir hier von Weltstunden, die Entscheidendes, auf Jahre bzw. Jahrzehnte hin, beigetragen haben. Der unverwechselbare, tief in Psychen abtauchende und diese zu bewegendem Geschehen verdichtende Könner Stefan Zweig bietet Leseerlebnisse pur, Weltgeschichte auf den markanten Punkten.
 
Gekennzeichnet
Clu98 | 13 weitere Rezensionen | Feb 24, 2023 |
Großartige Sprache! Mehr braucht man nicht zusagen.
 
Gekennzeichnet
Susann01 | Jan 31, 2023 |
Irene Wagner betrügt ihren Ehemann und wird deshalb von einer ihr unbekannten Frau, vorgeblich einer Freundin Ihres Geliebten, erpresst. Irenes ursprünglich frivole Angst vor dem Erwischtwerden wandelt sich angesichts der Erpressung in panische, allumfassende Angst vor dem Zusammenbruch ihrer bürgerlichen Existenz.

Stefan Zweigs Novelle ist eine meisterhafte Studie der menschlichen Angst in all ihren Facetten. Der Autor lässt psychologisch tief blicken und schafft ein raffiniertes Werk zum Thema Schuld und Sühne. Irenes Fremdgehen und die geschickt konstruierten Entwicklungen rund um die Erpressung und Irenes Verschleierungshandlungen fesseln den Leser und lassen ihn gemeinsam mit der Hauptprotagonistin nach einem Ausweg suchen. Zweig gelingt es, die bleierne Angst Irenes fühlbar zu machen.
 
Gekennzeichnet
schmechi | 18 weitere Rezensionen | Feb 28, 2022 |
Dieses Buch ist weniger eine Autobiografie (und soll es auch gar nicht sein, wie der Autor eingangs schreibt), sondern vielmehr ein Zeitzeugnis über fast 60 Jahre österreichische und europäische Geschichte. Die Zeit zwischen den 1880ern und den 1930ern mit ihren vielen sozialen und politischen Umwälzungen aus den Augen dieses extrem klugen, gebildeten und weltläufigen Menschen betrachten zu dürfen, ist schon etwas ganz Besonderes. Zweig lässt uns teilhaben an seiner privilegierten Kindheit im habsburgerischen Kaiserreich, seinem rastlosen Leben mit vielen Reisen durch Europa und in die "Neue Welt", seinem Aufstieg als international renommierter Autor - und vor allem an seinem intensiven Austausch mit vielen intellektuellen und teilweise sehr einflussreichen Zeitgenossen in ganz Europa. Wir erleben mit ihm den Ersten Weltkrieg mit seinen sozialen Verwerfungen und den Zusammenbruch des Kaiserreichs, die kurze Zeit der Hoffnung auf einen dauerhaften Frieden in einem geeinten Europa und schließlich das Ende aller Menschlichkeit und den kompletten Zusammenbruch der europäischen Idee durch Hitler. Zweig verliert alles, was ihm teuer und wichtig war. Das Buch endet mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, und auf den letzten Seiten spürt man bereits deutlich den sinkenden Lebensmut des heimatlos Gewordenen.
Europäische Geschichte als zeitgeschichtliches Dokument - und zugleich große Literatur!½
 
Gekennzeichnet
Leandra53 | 76 weitere Rezensionen | Jul 22, 2021 |
Es ist schon ein Unterschied, ob man ein Buch über diese Zeit liest, das in der Rückschau geschrieben wurde (etwa Florian Illies „1913“), oder ein Buch aus der Zeit. Stefan Zweig schrieb seine Erinnerungen von 1939 bis 1941 nieder. Die weitere Veränderung der Welt konnte er aufgrund seines Todes 1942 nicht mehr erleben. Interessant ist also, wie er das Leben in Wien und der k.u.k.-Monarchie um die Jahrhundertwende schildert und vor allem, wie er es bewertet und einschätzt, seine eigene Jugend, Werte, Sexualität, Kunst, Kultur. Als Zweig das Buch schrieb, war ihm mit über 50 alles genommen worden: Er reflektiert seinen 50. Geburtstag (Ehrungen, Erfolg, Wohlstand) und setzt ihn in Beziehung zur Tatsache, dies alles verloren zu haben. Und so ist es nicht nur der Blick auf die Vergangenheit, der das Buch auszeichnet, sondern auch die Sehnsucht nach Zukunft. Es heißt ja nicht umsonst „Erinnerungen eines Europäers“ und lenkt so den Blick auf ein geeintes Europa. Doch die Zukunft erlebte Zweig nicht mehr. Und heute, wo uns Corona wieder mehr denn je in die Nationalsstaatlichkeit zwingt, bzw. den Weg eröffnet, diesen Schritt zu gehen, täten alle gut daran, europäisch zu denken, wenn nicht sogar global.
1 abstimmen
Gekennzeichnet
Wassilissa | 76 weitere Rezensionen | Jul 6, 2020 |
Faszinierend, poetisch, gefühlvoll, grauenhaft.
Ein junger Leutnant lernt eine lahme Tochter aus gutem Hause kennen. Ihre gemeinsame Geschichte steuert über viele Höhen und Tiefen auf ein katastrophales Ende zu, das von vorneherein mitschwingt und wie ein Damoklesschwert über den Charakteren hängt.
Sehr realistisch, sehr feinfühlig erzählt. Auch wenn gesellschaftliche Konventionen und damit einhergehende Emotionen heute ganz anders sind als kurz vor dem ersten Weltkrieg, ist doch gut nachvollziehbar, was im Ich-Erzähler vorgeht. Inhaltlich erinnert das Buch stark an die Romantik, wenn es auch nicht ganz so schwülstig ausfällt.
Nicht immer angenehm, aber definitiv beeindruckend. Empfehlenswert! Um das auch zu erwähnen: In der von mir gelesenen Ausgabe aus dem Null-Papier-Verlag war der exzellente Satz sehr wohltuend. Oft hapert es daran im E-Book-Bereich selbst bei großen Verlagen, und bei gemeinfreien Werken ist es besonders schwierig, gut gesetzte Ausgaben zu finden. Eindeutige Empfehlung auch dafür!
 
Gekennzeichnet
zottel | 44 weitere Rezensionen | Apr 1, 2020 |
In diesem Band sind vier Legenden jüdischer und buddhistischer Überlieferung vereint. Die Entstehung der längsten, Der begrabene Leuchter, und Joseph Roths Beitrag dazu, wird von Weidermann beschrieben, was mich zu ihnen brachte.
Zweigs Sprache is gleichmäßig, fast könnte man sagen: distanziert, auch in der direkten Rede. Es störte mich etwas. Dann sagte ich mir: vielleicht ist dies passend für Legenden, denn Legenden werden wieder und wieder erzählt? So sollten sie vorgelesen werden, diese Legenden; es wäre besser, sie zu hören, nicht zu lesen. (XII-17)
 
Gekennzeichnet
MeisterPfriem | 2 weitere Rezensionen | Dec 29, 2017 |
Die junge Postassistentin Christine Hoflehner, die mit ihrer kranken Mutter in ärmlichen Verhältnissen in der österreichischen Provinz lebt, erhält im Jahr 1926 von ihrer reichen amerikanischen Tante eine Einladung, sie in deren mondänem Urlaubsort in den Schweizer Bergen zu besuchen. Neu eingekleidet und umgestylt von ihrer Tante, wird die hübsche junge Frau schnell zum begehrten Darling der Hotelgesellschaft und erlebt rauschende Tage im nie gekannten Reichtum.
Was sich anhört wie eine kitschige Aschenputtel-Version, ist in Wahrheit eine exemplarische Darstellung des Schicksals einer jungen österreichischen Mittelschicht-Generation, die durch den ersten Weltkrieg alles verloren hat: die Jugend, die Lebensfreude, die finanzielle Existenz und die Hoffnung, dass sich das Schicksal irgendwann wieder zum Guten wenden könnte.
Auf den rauschenden Höhenflug folgt nach ihrer plötzlichen Rückkehr der reißende Sog in den Abgrund, denn zurückgestoßen in ihre ärmliche Existenz wird Christine die Trost- und Hoffnungslosigkeit ihres Daseins unerträglich. Als sie bei einem Besuch in Wien einen jungen Mann in ähnlicher Situation kennen lernt und fortan regelmäßig trifft, spitzt sich die Situation immer weiter zu....
Atemlos geschrieben, brillant formuliert; ein Roman, dessen gewaltigem Sog man sich - einmal mit dem Lesen begonnen - nicht mehr entziehen kann.½
 
Gekennzeichnet
Leandra53 | 54 weitere Rezensionen | Mar 13, 2016 |
Was für ein Mensch dieser Fouché! Lust an der Macht aber nur nicht den Kopf allzusehr herausstecken!, lieber im Hintergrund bleiben, andere anstacheln, die dann mit dem ihren zahlen, wenn es schief geht, immer den Mantel nach dem Wind hängen, ein feines Gespür wie dieser umschlagen könnte, so hat er Robespierre besiegt; als Polizeiminister allen nachgespürt, über alle eine geheime Kartei angelegt; als Sohn eines Kapitäns zu zart für die See, in den 100 Tagen für einige Wochen zu dem mächtigsten Mann Frankreichs aufsteigend, die Bourbonen wieder auf einen Tron setzend, nur um von ihnen kurz darauf geächtet zu werden: das was er sein Leben lang austeilte, der Verrat, nun ihm zukam; seine Kinder liebte aber als fanatischer Revolutionär sich gebend 1700 Lyoner, Aristokraten, Reiche und unbeliebte, mit Kartätschen hat niedermähen lassen, weil die Guillotine ihm zu langsam arbeitete, ihm den Namen «Mitrailleur de Lyon» einbringend, den er dann als zweitreichster Mann Frankreichs und mit dem Adelstitel versehen hat vergessen wollen, als steinreicher ein bildschönes junges Mädchen aus verarmten Adel heiratend, die, von glänzenden Festen träumend, sich wenige Wochen später an einen verspotteten und verachteten hässlichen Alten mit dem Totenschädel gebunden fand.
Zweigs Biographie ist ein faszinierendes psychologisches Porträt. Ob Fouché so ganz der Verräter wie Zweig ihn vorstellt, war?. Der Eintrag in der französischen Wikipedia (https://fr.wikipedia.org/wiki/Joseph_Fouch%C3%A9#Caract.C3.A8re_de_Fouch.C3.A9 ) erwähnt (allerdings ohne Quellenangabe) doch einige uneigennützige Handlungen einigen Bekannten/Freunden gegenüber. (X-15)½
 
Gekennzeichnet
MeisterPfriem | 20 weitere Rezensionen | Oct 11, 2015 |
Merezhkovskys Biographie Napoleons ließ mich nach langen Jahren wieder zu dem Buch greifen, da hier Zweig die Schlacht von Waterloo, Napoleons Fiasko, als eine seiner ‚Sternstunden‘, beschreibt.

Eine ‚Sternstunde der Menschheit‘: eine Weltstunde sei dies, die Entscheidung für Jahrzehnte und Jahrhunderte schafft – so Zweig in der Einleitung. Eine Entwicklung „komprimiert sich in einen einzigen Augenblick, der alles bestimmt und alles entscheidet: ein einziges Ja, ein einziges Nein, ein Zufrüh oder ein Zuspät macht diese Stunde unwiderruflich“ und bestimmt das Leben eines Einzelnen [eines großen Künstlers] oder den Verlauf der Geschichte von Völkern. Solche Sternstunden leuchten wie Sterne in der Nacht der Vergänglichkeit.

Doch genau genommen entsprechen seiner Vorstellung einer ‚Sternstunde‘ eigendlich nur die Hälfte der zwölf historischen Miniaturen dieses Bandes:
- Das Genie einer Nacht – die Marseillaise, 25. April 1792: die spontane Bitte des Straßburger Bürgermeisters Dietrich an den Kapitän Rouget um ein Kriegslied für die am nächsten Morgen ausmarschierenden Truppen der Rheinarmee.
- Waterloo – 18. Juni 1815: Die Entscheidung des Marschall Grouchy sich streng an den Befehl Napoleons zu halten und nicht den Bitten/Forderungen seiner untergebenden Offiziere nachzukommen, in die offensichtlich begonne Schlacht eingreifen zu dürfen,.
- Der versiegelte Zug – Lenin, 9. April 1917: Die deutsche Genemigung der Forderung Lenins eines exterritorialen Waggons ohne Personenkontrolle für die Fahrt von der Schweiz durch das mit Russland im Kriege stehende Deutschland nach Schweden und St. Petersburg. Dass Ludendorff die Entscheidung alleine getroffen hätte, wie Zweig schreibt, ist allerdings zweifelhaft; höchstwahrscheinlich wurde sie nach Absprache durch verschiedene deutsche Regierungsstellen getroffen.
- Dann das Schicksal großer Künstler betreffend: Dostojewskis Begnadigung 1849 in letzter Minute, Tolstois Flucht 1910 und die Abweisung Goethes als der 74-jährige sich 1823 um die Hand der neunzehnjährigen Ulrike von Levetzow bewarb.

Doch Entdeckungen (die erste Sicht des Pazifik durch Europäer, Gold in Californien) wie auch technische Fortschritte sind nur Ereignisse, die früher oder später unausweichlich stattfinden. Wen interessiert es heute noch, wann genau und von wem das erste transatlantische Kabel gelegt wurde? Doch beschreibt Zweig diese Ereignisse so anschaulich, so lebendig, ein Vergnügen auch diese wiederzulesen.

Eine Sternstunde: intuitiv verbinde ich mit dem Wort ein positives Ereignis, was sicher für Dostojewskis Begnadigung zutrifft. Aber gab es je eine Stunde der Entscheidung, die das Schicksal ganzer Länder auch aus heutiger Sicht noch auf positive Weise bestimmte? Sollte man dazu vielleicht die - wievielten(?) - Male seit 1945 zählen, wenn nur ein Zufall und die kühle Entscheidung eines Einzelnen einen atomaren Weltuntergang verhinderte?
Oder die Schlacht von Waterloo? Aus britischer Sicht schon, denn in England (und Preußen!) wird der Sieg bis heute gefeiert. Aber für Europas Zukunft war Napoleons Niederlage ein Unglück. Die Restauration und der Kleinstaatennationalsmus bereiteten den Weg für das blutige 20. Jahrhundert. Natürlich ist es Spekulation, aber faszinierend sich vorzustellen, dass dann vielleicht weder die Weltkriege noch der Holocast stattgefunden hätten. Wie anders sähe die Welt heute aus! (VII / VIII-15)
 
Gekennzeichnet
MeisterPfriem | 13 weitere Rezensionen | Sep 12, 2015 |
Österreich vor dem 1. Weltkrieg. Ein junger k.u.k. Offizier befreundet sich mit einem gelähmten Mädchen. Diese verliebt sich heftig in ihn und er schafft es aus Schwäche und Mitleid nicht, ehrlich mit ihr umzugehen. So kommt es zur Katastrophe.
Das Thema ist interessant und Zweig schreibt natürlich größtenteils ausgezeichnet. Aber trotzdem hat mir das Buch nicht besonders gut gefallen.
 
Gekennzeichnet
Wassilissa | 44 weitere Rezensionen | Jun 9, 2015 |
Phantastische Nacht Rezension

In dieser Geschichte zeigt Stefan Zweig, dass er es wie kein anderer versteht, seinen Leser von einem Augenblick auf den anderen in der Gedanken- und Gefühlswelt seiner Charaktere gefangen zu nehmen und nicht wieder loszulassen. Dies gelingt ihm selbst dann, wenn der Leser so gut wie überhaupt nichts mit dieser Welt zu tun hat.

In der Einleitung erfährt man, dass es sich eigentlich um ein gefundenes Manuskript handelt. Ein versiegeltes Paket eines Barons, der gerade im Krieg im August 1914 gefallen ist. Die Familie übergibt jemandem die Papiere. In den Papieren findet sich ein von einem Ich-Erzähler erzählter Vorfall. Dieser Erzähler distanziert sich von dem Ich wieder in der Art, dass er nicht mehr der ist, von dem er erzählt und sich von außen sieht.

Der Protagonist befindet sich in einem Stadium emotionaler Impotenz. Dies wird durch ein Beispiel untermauert, als er einen Brief von einer Frau bekommt, mit der er jahrelang beisammen war und die ihm mitteilt, dass sie die Beziehung beendet, weil sie einen anderen heiraten will. Die Briefschreiberin hat offenbar große Befürchtungen, dass sie den Herrn in großes Unglück stößt, was aber völlig unbegründet ist. Es ist ihm völlig egal. Der Erzähler spricht von einem Prozess der Lähmung, der ihn erfasst hat. Er ist bereits völlig stumpf gegenüber derartigen Gefühlen geworden.

Durch Zufall wird der Erzähler/Protagonist auf ein Pferderennen in der Freudenau aufmerksam und erinnert sich an einen früheren Besuch der Rennbahn nahe dem Wiener Prater. Er nimmt eine Kutsche, und der Leser gewinnt einen Eindruck von der Eintönigkeit seines Lebens. Alles, was er erlebt, ist bereits vielfach bekannt, es fehlt ihm das Moment des Neuen, des Unbekannten. Nichts scheint ihn mehr neugierig machen zu können. Es ist ihm, als würde er jetzt schon wissen, was sich auf und abseits der Rennbahn abspielen werde.

In seiner zur Gewohnheit gewordenen Lustlosigkeit beobachtet er das Kopf-an-Kopf-Finish der Pferde, als ihm ein Mann auffällt, der mit überschwänglicher Begeisterung das Rennen verfolgt und dabei wild mit Wettscheinen, die er in der Hand hält, agitiert. Der Erzähler fühlt in diesem Moment einen unheimlichen Neid auf diese Begeisterungsfähigkeit und Erregtheit des Mannes, die ihm selbst verwehrt sind. Er fragt sich, was passieren müsste, dass er zu so einer emotionalen Regung fähig wäre. Er muss sich eingestehen, dass ihn vermutlich nichts aus seiner Apathie reißen könnte.
Nach dem Zieleinlauf setzt er sich gelangweilt auf einen Stuhl und gibt sich der unbeteiligten Beobachtung des Geschehens abseits der Rennbahn hin.
Das kindische laute Lachen einer Frau unmittelbar hinter ihm erhascht seine Aufmerksamkeit. Er gibt sich einem intellektuellen Spiel, einem psychologischen Experiment hin, indem er beschließt, die Frau nicht sehen zu wollen, sondern sich lediglich eine Vorstellung von ihr zu machen. Er hört ihr Gelächter, registriert ihren ungarischen Akzent, und schon stattet er sie mit dunklem Haar und einem Schönheitspunkt auf ihrer linken Wange aus. Es scheint selbstverständlich dass die Frau in seiner Vorstellung sehr schön ist. Sein Verlangen, die Frau zu sehen, steigt ins Unerträgliche. Er will die Lust an seinem imaginäres Spiel bis zum letzten Tropfen auskosten und schließt noch die Augen, bevor er sich erwartungsvoll umdreht.

Die Enttäuschung ist unvermeidlich. Das hindert ihn aber nicht, mit der Frau zu flirten, obwohl er merkt, dass sie mit jemandem da ist. Er bemerkt, dass es ihr nichts ausmacht, dass er mit den Augen jedes Detail an ihr absucht. Plötzlich kommt ein aufgeregter Mann auf sie zu. Nervös, verschwitzt. Dem Erzähler fällt nicht nur ein Bündel Wettscheine in seiner Hand auf, sondern der Ehering. Mit der Frau wechselte der Mann kein Wort, jedoch mit einem Offizier, und zwar in lautem Ungarisch. Der Erzähler erkennt in ihm jetzt den Mann, der so ekstatisch den Kopf-an-Kopf-Einlauf der Pferde mitverfolgt hatte. Die Frau scheint das Verhalten ihres Mannes vor dem Offizier als peinlich zu empfinden. Als sich der fette Ehemann zum nächsten Rennen aufmacht, will der Erzähler seinen Flirt fortsetzen und bringt sich in Position. Dabei stößt er mit dem nervösen Ungarn zusammen, dessen Wettscheine im Wind davongeblasen werden. Für einen kurzen Moment starren sich die Männer wortlos an. Der erzürnte Ungar sucht vor den Augen seiner Frau am Boden kriechend nach seinen Wettscheinen. Der Erzähler bemerkt den Hass der Frau ihm gegenüber und genießt es, dass er die beiden in so eine Aufregung verstrickt hat. Noch nie hat er eine Bosheit so genossen. Vor allem die Erniedrigung der Frau bereitet ihm großes Vergnügen.

Schließlich hat der Ungar alle Wettscheine aufgesammelt, bis auf einen, der sich in der Nähe des Erzählers befindet. Er beobachtet, wie verzweifelt der offensichtlich kurzsichtige Mann sucht und tritt einem bösen Impuls folgend auf den Wettschein, um ihn zu verbergen. Der Ungar muss seine verzweifelte Suche abbrechen, als ihn seine Frau wegzieht. Der Erzähler fühlt sich gut. Immerhin haben eine erotische Episode und ein Gefühl der Schadenfreude seine monotone Alltagswelt unterbrochen. Er hebt den Wettschein auf.

Wieder gibt es eine große Aufregung in der Menge. Ein neuer Zieleinlauf. Der Gewinner hat die Nummer 7. Das ist genau die Nummer auf seinem Wettschein. Der Erzähler gewinnt neunfach den Einsatz von 20 Kronen. Er löst den Wettschein ein, hat aber kein gutes Gefühl dabei. Er weiß, dass es das Geld eines anderen ist. Das ist einem ehrenvollen Offizier der Reserve, der er ist, verboten. Er will das Geld unbedingt loswerden und fasst schließlich den Entschluss, im nächsten Rennen alles auf den absoluten Außenseiter Teddy zu setzen. Als er sich entspannt auf einen Stuhl setzt sind alle negativen Gefühle wie weggeblasen. Bald aber überkommt ihn Nervosität. Er fürchtet den Ungarn Lajos mit seiner Frau zu sehen. Entgegen seiner Natur fiebert er dem Beginn des nächsten Rennens entgegen. Als ein Mann nicht müde wird, den Namen des Champions zu rufen, steigt unbändiger Hass im Erzähler auf, der jetzt nur eines will, nämlich dass sein Außenseiter Teddy gewinnt. So verliert er total die Selbstkontrolle und beginnt ekstatisch „Teddy, Teddy!“ zu rufen. Teddy gewinnt wider aller Erwartungen. Der Erzähler ist von Begeisterung erfasst und will den Sieg und das gewonnene Geld auskosten. Lust löst die Scham ab.

Auf der Heimfahrt mit der Kutsche will er einen neuerlichen Kontakt mit dem Ungarn und seiner Frau vermeiden. Er fühlt sich als niederträchtiger Dieb, der gleichzeitig irgendwie zufrieden über seine verbrecherische Tat ist. Zum ersten Mal seit vielen Jahren empfindet er eine nicht gekannte Nähe zum echten Leben. Und das ausgerechnet dann, als er mit Zylinder und noblem Gewand am niederen Pöbel der Vorstadt vorbeifährt. Es zieht ihn ganz und gar nicht nach Hause. Ganz im Gegenteil, er sucht aus Furcht vor der Einsamkeit den Kontakt zu gewöhnlichen Menschen, und um aus seiner Umgebung der Gleichgültigkeit auszubrechen. Er setzt sich in einen Biergarten, wo er sich plötzlich als Fremdkörper erkennt. Aber er spürt auch, dass ihm diese phantastische Nacht etwas anbieten würde, was ihm zuvor verschlossen war. Die Versuchung nach menschlichem Kontakt ist in dieser Nacht entflammt. Er erinnert sich an die Neugier seiner Kinderjahre. An eine dunkle Seite in seiner Jugend, während der ihn die Neugier nach diesen Figuren im Prater angezogen hat. Gleichzeitig fürchtete er sich vor ihnen. Er will frei atmen und will sich von der ultimativen Einsamkeit erholen. Seine Aufmerksamkeit gilt einem Karussell, das gerade zugesperrt wird.

Und als eine schmutzige Prostituierte aufkreuzt, hat er nur einen Wunsch, dass sie sich zu ihm herdrehen solle, damit er mit ihr sprechen kann. Sie erwidert seine unsichtbare Einladung, und er folgt ihr in eine dunkle Gasse, bis er bemerkt, dass es sich um einen Hinterhalt handelt. Zuhälter sind ihnen gefolgt. Er denkt zwar einen Augenblick lang an Flucht, jedoch entflammt ihn die alarmierende gefährliche Situation nur noch mehr. Sie verlangt Geld von ihm. Er gibt es ihr und als sie ihrer Freude Ausdruck gibt, freut auch er sich, als hätte er für jemanden Armen etwas Gutes getan. Das erste Mal in seinem Leben war er sich bewusst, für jemanden anderes zu leben. So lebendig fühlte er sich. Er konnte ihr ganzes miserables Leben ausgebreitet vor sich sehen. Unendliches Mitleid überkam ihn. Zwei Figuren tauchten in der Dunkelheit auf und er erkennt, dass er sich in der tiefsten Stelle des Abgrundes befindet, in die er kommen kann. Er, der smarte, noble Gentleman in der Halbwelt der Zuhälter. Die Frau weicht zur Seite, als würde sie den Hinterhalt nicht billigen. Die Männer drohen ihm. Obwohl die Situation ausweglos scheint, spielt er mit den Kriminellen wie er es auf der Rennbahn getan hat. Er versteht sich als Krimineller unter Kriminellen. Und zum zweiten Mal in dieser Nacht ist er verzaubert vom risikoreichen Spiel mit dem gefährlichsten, mit dem man spielen kann, mit dem Leben. Schließlich tauchen Polizisten in der Nähe auf. Die Zuhälter ziehen sich zurück und das Spiel scheint vorbei. Er hat ein zweites Mal gewonnen. Die Spannung ist auf dem Höhepunkt. Die Polizisten kommen und der Erzähler weiß, dass die Zuhälter jetzt ihn fürchten und nicht umgekehrt. Er überlegt, was sie von ihm gewollt hätten, von einem saturierten Parasiten, sie hätten ihn ausrauben und strangulieren können. Es tut ihm Leid, dass er, der ja selbst aus einer Laune heraus zum Dieb geworden war, diese armen Teufel peinigt. Er gewinnt Sympathie für die Kriminellen und schämt sich mit ihrer Angst zu seinem eigenen Amüsement gespielt zu haben.

Deshalb geht er auf sie zu, tut eingeschüchtert. Sie haben etwas anderes erwartet. Drohungen vielleicht. Der Erzähler genießt erneut das Spiel. Er bittet um Gnade und um Geheimhaltung. Er offeriert den erstaunten Erpressern 100 Kronen. Sofort verlangt der zweite Zuhälter 200. Das Mädchen aber interveniert. Darüber freut sich der Erzähler. Noch nie hat ein Mensch für ihn Partei ergriffen. Er gibt den amateurhaften Gaunern 200. Ohnehin Geld, das er sich durch zweifelhafte Machenschaften angeeignet hatte. Als sich der Zuhälter bedankt, schämt er sich sogar. „Ich habe zu danken, dass ihr mich nicht bei der Polizei gemeldet habt“, antwortet er und weiß, dass dieser Moment ewig in der Erinnerung dieser Menschen präsent sein würde und dabei fühlt er selbst eine Genugtuung, die er noch nie gefühlt hat.

Euphorisch nähert er sich dem Prater-Ausgang. Dort erblickt er eine Straßenhändlerin. Der Erzähler gibt ihr für etwas Gebäck, dass sie vermutlich schon seit Stunden zu verkaufen versucht, eine Banknote. Er geht weiter und genießt ihr Erstaunen und ihre Dankbarkeit. Jetzt kann er nicht mehr genug kriegen davon, andere glücklich zu machen. Sogar einem Pferd streicht er über die Nüstern. Einem Händler kauft er Luftballone ab und entlässt sie in die Freiheit der Lüfte. Ebenso scheinen seine verbleibenden Banknoten auf Freiheit zu brennen. Er beglückt einen Straßenfeger und andere Personen, womit er eine Welle des Erstaunens und der Dankbarkeit hinter sich lässt. Als er sich der letzten Geldscheine entledigt hat, fühlt er sich leicht.

Vor seiner Wohnungstür schreckt der Erzähler zurück. Er hat Angst, mit dem Betreten seiner Wohnung wieder der zu werden, als der er hier weggegangen ist. Die Furcht ist unbegründet. Er wacht am nächsten Tag freudig auf. Die Lebenslust ist noch da. Er will nicht wissen, wie lange das so bleibt und wie sein Leben weitergeht. Denn nur wer sein Leben als Mysterium lebt, ist wirklich am Leben, glaubt er zu wissen. Jetzt interessiert ihn alles, nichts steht er mehr gleichgültig gegenüber, und er kann mit Menschen sprechen, ohne die Schranken der höflichen Konversation. Er bezeichnet seine Wende als Wunder des Erwachens. Einer, der sich selbst gefunden hat, so meint er, der kann nichts mehr verlieren und der versteht auch andere Menschen.

Also ich bin von der Spannung der Geschichte total begeistert und ich muss eigentlich nicht erwähnen, dass ich diese Lektüre (wie alle anderen Werke von Stefan Zweig auch) wärmstens empfehle.

Wolfgang Schinwald
 
Gekennzeichnet
wschin | 1 weitere Rezension | Mar 30, 2013 |
Klappentext
Das ahnungsvolle Noch-nicht-Wissen, das erste Erleben, Erfahren, das Träumen und aus dem Traum heraus schließlich wieder das phantasierende Ahnen: "Sommernovellette" - "Die Gouvernante"- "Die spät bezahlte Schuld" - "Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau" - "Die Frau und die Landschaft" - "Phantastische Nacht" - die Erzählungen dieses Bandes ziehen, so aneinandergereiht, die Konturen einer Entwicklung nach.½
 
Gekennzeichnet
hbwiesbaden | 1 weitere Rezension | Jan 25, 2011 |
Buch der 1000 Bücher
Copyright: Aus Das Buch der 1000 Bücher (Harenberg Verlag)

Sternstunden der Menschheit
OA 1927 Form Historische Miniaturen Epoche Moderne
Stefan Zweigs populärstes und erfolgreichstes Buch ist eine Sammlung von Texten, die er selbst historische Miniaturen nannte. Jede Miniatur schildert einige dramatische Stunden oder Tage im Leben einer historischen Persönlichkeit, deren Entscheidung den weiteren Verlauf der Menschheitsgeschichte bestimmt.
Inhalt: Die Erstausgabe von 1927 enthielt fünf Texte – Die Weltminute von Waterloo (General Grouchy kommt Napoleon zu spät zu Hilfe), Die Marienbader Elegie (R Goethes unerfüllte Liebe zu Ulrike von Levetzow), Die Entdeckung Eldorados (Johann August Suter im Wilden Westen), Heroischer Augenblick (Fjodor R Dostojewskis Begnadigung in letzter Sekunde) und Der Kampf um den Südpol (Robert Scott gegen Roald Amundsen). In die postum erschienene Ausgabe von 1943 wurden sieben weitere Miniaturen aufgenommen: Flucht in die Unsterblichkeit (die Entdeckung des Pazifik durch Vasco Núñez de Balboa), Die Eroberung von Byzanz (eine angeblich unverschlossen gebliebene Tür ermöglicht die Eroberung der Stadt), Georg Friedrich Händels Auferstehung (die Entstehung des Oratoriums Messias), Das Genie einer Nacht (Rouget de Lisle komponiert die Marseillaise), Das erste Wort über den Ozean (C. W. Field verlegt das erste transatlantische Kabel), Die Flucht zu Gott (Leo R Tolstois letzte Tage) und Der versiegelte Zug (Wladimir Iljitsch Lenins Rückkehr nach Russland 1917). 1940 war eine englische Ausgabe erschienen, die neben den fünf Texten der deutschen Erstausgabe zwei weitere Miniaturen enthielt, welche auch der heute erhältlichen deutschen Sammlung angefügt sind (Cicero und Wilson versagt).
Aufbau: Die Texte sind keine historischen Analysen, sondern novellistisch zugespitzte Erzählungen, in deren Mittelpunkt jeweils eine biografisch überhöhte Person steht. Zwei Miniaturen sind keine novellistischen Prosatexte: In Heroischer Augenblick schildert Zweig Dostojewskis Begnadigung in Form eines dramatischen Gedichts, in Die Flucht zu Gott Tolstois letzte Stunden als Epilog zu dessen unvollendetem Drama Und das Licht scheinet in der Finsternis.
Zweig wollte nicht trockene Geschichtsschreibung betreiben, sondern anschaulich-realistisch einige dramatische Sternstunden der Menschheit schildern, wobei er sich nicht streng an die geschichtliche Wahrheit hielt. Die Texte spiegeln eine Geschichtsauffassung wider, welche die Intuition und den Heroismus des Einzelnen für die Entwicklung der Menschheit wichtiger nimmt als politische und gesellschaftliche Zusammenhänge.
Wirkung: Schon die Erstausgabe von 1927 wurde ein überraschend großer Erfolg – bis Ende 1928 wurden sieben Auflagen (130 000 Exemplare) des schmalen Bandes gedruckt. Im Dezember 2000 erschien im Fischer Taschenbuch Verlag bereits die 47. Auflage der nunmehr aus 14 Texten bestehenden Sammlung.½
 
Gekennzeichnet
hbwiesbaden | 13 weitere Rezensionen | Jan 25, 2011 |
Ein meisterhaftes Werk.
Stefan Zweig lädt ein zu einer Reise durch die Vergangenheit und lässt dabei einige ausgesuchte Begebenheiten in packender Lebendigkeit erneut im Geiste des geneigten Lesers wieder geschehen. Der dabei gespannte Bogen in der Form von 14 historischen Miniaturen ist ein weiter, der zurückreicht in die Tage des Julius Caesar und seinen Abschluss findet in den politischen Wirren nach dem 1. Weltkrieg.

Flucht in die Unsterblichkeit - Die Entdeckung des Pazifischen Ozeans
Die Eroberung von Byzanz
Georg Friedrich Händels Auferstehung
Das Genie einer Nacht - Die Marseillaise
Die Weltminute von Waterloo - Napoleon
Die Marienbader Elegie - Goethe zwischen Karlsbad und Weimar
Die Entdeckung Eldorados - J. A. Suter, Kalifornien
Heroischer Augenblick - Dostojewski, Petersburg, Semenowskplatz
Das erste Wort über den Ozean - Cyrus W. Field
Die Flucht zu Gott - Ein Epilog zu Leo Tolstois unvollendetem Drama 'Und das Licht scheinet in der Finsternis'
Der Kampf um den Südpol - Kapitän Scott, 90. Breitengrad
Der versiegelte Zug - Lenin
Cicero
Wilson versagt

In der Nachbemerkung des Herausgebers wird ein Zeitgenosse Zweig´s aus dem Jahr 1927 zitiert, der die 'Sternstunden' als 'neue episch-dramatische Gattung' bezeichnete. Und diese Charakterisierung erweist sich tatsächlich als sehr zutreffend, denn weder fehlt es den Geschichten an historisch-faktischer Dramatik noch verabsäumt der Autor deren Darstellung in einer für ihn typisch epischen Tragweite. So sind alle Miniaturen in Wirklichkeit große Werke, auch wenn sich die eher literarisch orientierten Abschnitte zu Dostojewski und Tolstoi geringfügig unzugänglicher erweisen. Und unter den historischen Abrissen sind ganz besonders 'Georg Friedrich Händels Auferstehung' und 'Cicero' hervorzuheben, doch auch kaum minder alle anderen Schilderungen.
1 abstimmen
Gekennzeichnet
ThomasK | 10 weitere Rezensionen | Aug 28, 2008 |